Brasilien 1974. Eine Ideenreportage
Cécile Stehrenberger
September 20, 2013 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.26 editorial review CC BY 4.0 |
print comment |
Keywords: medicine | postcolonial | power | risk
"Manche sagen, die grossen Ideologien seien im Absterben begriffen, während andere meinen, sie überschwemmten uns mit ihrer Monotonie. Aber in der heutigen Welt wimmelt es von Ideen, die entstehen, sich bewegen, verschwinden oder wieder auftauchen und den Menschen wie auch den Dingen Stösse versetzen. Und das nicht nur in intellektuellen Kreisen oder in den Universitäten Westeuropas, sondern überall in der Welt unter anderem auch bei Minderheiten oder Völkern, die in ihrer Geschichte bislang noch nie daran gewöhnt waren, das Wort zu ergreifen oder sich Gehör zu verschaffen."[1]
Im Herbst 1974 hielt Michel Foucault mehrere Vorlesungen am Institut für Sozialmedizin in Rio de Janeiro. Der Titel der ersten lautete "Krise der Medizin und der Anti-Medizin".[2] Der historischen Ideenreporterin gibt sich diese Vorlesung als faszinierende Momentaufnahme von Ideenbewegungen zu lesen. Nicht nur werden darin zum ersten Mal Konzepte eingeführt, die in den darauf folgenden Jahren in Foucaults Arbeiten und deren Rezeption zentral wurden. Auch zeichnet sich auf diesem Schnappschuss der historische Kontext ab, vor dem sich diese Bewegungen vollzogen.
Foucault befand in dieser Vorlesung, dass "wir" unter einer sich "seit dem 18. Jahrhundert in Vorbereitung" und seit ihrem Beginn in einer Krise befindlichen "Somatokratie" leben würden, "unter einer Herrschaftsform, für die die Pflege des Körpers, die körperliche Gesundheit, […] usw. zu den Zielsetzungen des staatlichen Eingreifens gehört." (58) Es folgten Ausführungen zu den verschiedenen Entwicklungsstationen und Merkmalen dieser Herrschaftsform.
Eröffnung eines neuen Gebäudes des Hôpital de la Salpêtrière, Paris, 1913. Credits to: http://gallica.bnf.fr/
Foucault sprach von einer "endlose[n] Medizinisierung" (65), in der sich die Medizin auf sämtliche Lebensbereiche ausbreite. Vor allem aber betont er, dass das Leben an sich und die Geschichte unter das Messer oder besser ins Reagenzglas gezwungen würden: "Heute mit den Techniken, über die die Medizin verfügt, betrifft die Möglichkeit, die genetische Struktur der Zellen zu modifizieren, nicht nur das Individuum oder seine Nachkommenschaft, sondern die menschliche Gattung als ganze; […] Damit tritt eine Dimension medizinischer Möglichkeiten auf den Plan, die ich die Frage der Bio-Geschichte nennen möchte."(64). Foucault bezeichnete dieses Potential der Medizin als "eine der großen Gefahren der derzeitigen Medizin" und als eine "neue Dimension" von "medizinische[m] Risiko". Um "Gefahren" und "Risiken" ging es in der Vorlesung zur "Krise der Medizin und Anti-Medizin ganz wesentlich. Das medizinische Risiko begriff Foucault als "das schwierig zu zerreißende Band zwischen den positiven und den negativen Wirkungen der Medizin" (62f.), das die Medizin seit ihrem Aufschwung im 18. Jahrhundert begleitete und sich etwa in der Zunahme der Sterblichkeit nach Erfindung der Anästhesie äußerte, und nun eben eine neue Dimensionen angenommen habe.
Foucault war nicht der einzige, der sich in den 1970er Jahren mit Risiko befasste. Das Erforschen von Risiken, in denen sich Gefahren vermeintlich kalkulieren ließen, boomte damals in Westeuropa und den USA. Die Gefahren, die nicht nur Wissenschaftler_innen und Intellektuelle beschäftigten, vervielfältigten sich im Zeitalter des "'all-hazards' mindset"[3]. Nicht mehr nur nukleare, sondern Bedrohungspotentiale aller Art ängstigten. Foucault war, so möchte ich meinen, mit Äußerungen wie der folgenden ein Kind seiner Zeit: "Letztendlich weiß man nicht, wohin die am genetischen Potential lebender Zellen, an Bakterien oder an Viren durchgeführten genetischen Manipulationen führen werden. Es wird technisch möglich, aggressive Stoffe zu erschaffen, die den menschlichen Organismus attackieren können und gegen die es keine Abwehrmittel gibt. Es ist möglich, dass man gegen den Menschen und die menschliche Gattung eine absolute biologische Waffe schmiedet, ohne dass gleichzeitig Abwehrmittel entwickelt werden." (62)
Interessant ist, dass Foucault in Rio auch von genau jener historischen Konstellation sprach, aus der heraus sich die Medizin selber in der Gewerbehygiene und Arbeitsmedizin als eine Gefahrenwissenschaft konstituiert hatte. Er verwies nämlich darauf, dass die "große Neurologie von Duchesne [sic] de Boulogne, von Charcot usw. im Anschluss an die um die Jahre 1860 herum geschehenen Eisenbahn- und Arbeitsunfälle entstand, zu der Zeit also, als das Problem der Versicherungen, der Arbeitsunfähigkeit, der zivilrechtlichen Verantwortung der Arbeitgeber und der Transportunternehmer aufkam." (71f.) Foucault führt dabei die Arbeiten Charcots und seiner Mitstreiter auf, um zu illustrieren, dass "die ökonomische Frage in der Geschichte der Medizin sehr wohl präsent" war. Ein paar Abschnitte davor formuliert er radikaler, dass sich die Medizin im 18. Jahrhundert aus "ökonomischen Gründen entwickelt" hätte (71). Er kam in diesem Zusammenhang auf die in späteren Jahren in seinen Texten so wichtige Rolle der Epidemien des 18. Jahrhunderts in der Entwicklung neuer Regierungsformen zu sprechen und konstatierte, dass die "politische Ökonomie der Medizin" ein "Hauptmerkmal der modernen Medizin" darstelle. (Foucaults Gebrauch des Terminus ‚politische Ökonomie‘ ist hier wie so vielerorts interessant und bedürfte eigentlich einer eigenen (historischen) Bearbeitung). In diesem Verhältnis zwischen Ökonomie und Medizin sei es aber, so war weiter in der Vorlesung zu hören, jüngst zu einem Umbruch gekommen: "Denn einst verlangte man vom Arzt, der Gesellschaft starke Individuen zu geben […]. In unseren Tagen begegnet die Medizin der Ökonomie auf einem anderen Weg. Nicht einfach, weil sie fähig ist, die Arbeitskraft zu reproduzieren, sondern weil sie direkt einen Reichtum hervorzubringen vermag, insofern die Gesundheit für die einen einen Wunsch und für die anderen einen Luxus darstellt. Die zu einem Konsumobjekt gewordene Gesundheit […] wurde in den Markt eingeführt." (72) Foucault führte weiter aus, dass die "Einführung des menschlichen Körpers und der Gesundheit ins System des Konsums" die Qualität jener Gesundheit keineswegs gesteigert habe. Er sprach von einer "Ungleichheit im Konsum medizinischer Dienstleistung", welche gerade auch das Sozialversicherungswesen nicht zu nivellieren vermocht habe, in dem "die kleinen Konsumenten, die auch die ärmsten sind, mit ihren Beiträgen den Mehrkonsum der Reicheren bezahlen" (74) und "die großen pharmazeutischen Unternehmen" die "größten Profite aus der Gesundheit" (75) zögen.
Als DEN historischen Moment, in dem die Gesundheit "in das Feld der Makroökonomie" (56) eingetreten wäre, bestimmte Foucault gleich am Anfang der Vorlesung den 1942 ausgearbeitet britische Beveridgeplan, in dem Gesundheit zum individuellen Recht erhoben worden war. Womit sich "Gesundheit in eine Gegenstand, um den sich die Staaten nicht um ihrer selbst, sondern um der Individuen willen zu kümmern haben" verwandelte (55).
Dieser ganze Medizin-Staat-Markt-Komplex befand sich laut Foucault seit seiner Entstehung in einer "Krise". Dennoch sah er diese Krise anscheinend 1974 aus einem ganz bestimmten Grund als ein akutes Problem an:
"Es gilt zu bestimmen, ob das medizinische Entwicklungsmodell, das Europa im 18. und 19. Jahrhundert gekannt hat, als solches reproduziert oder abgewandelt werden muss. Man muss versuchen herauszubekommen, unter welchen Bedingungen es wirkungsvoll, das heißt ohne die uns bekannten negativen Folgen, auf diese Gesellschaften angewandt werden kann." (76) Mit "diesen Gesellschaften" meinte Foucault keine anderen als diejenigen, "die dieses Entwicklungsmodell der Medizin nicht kennen, die aufgrund ihrer kolonialen oder halbkolonialen Situation nur eine ferne oder sekundäre Beziehung zu diesen medizinischen Strukturen haben und die heute nach einer Medizinisierung verlangen, zu der sie das Recht haben, weil sie von Infektionskrankheiten betroffen sind." (75f)
Französisches Bauprojekt für Klinik in Fort-de-France, Martinique, 2012. Credits to: http://www.vinci.com/
Die Krise der Medizin wurde für Foucault in dem Moment ganz besonders akut, wo sie sich für ihn als Problem einer eben nicht "weniger" sondern ‚anders' "entwickelten" Weltregionen darlegte. Ein postkolonialer turn in seinem Werk?
Ich denke, nein. Aber die Rio-Vorlesung ist, so meine ich, ein Hinweis darauf, dass der Kolonialismus und seine Folgen nicht vollkommen jenseits von Foucaults Horizont lagen. Stärker formuliert bin ich geneigt zu sagen, dass darin ein solcher turn als eine in Erwägung gezogene Option lesbar ist.
Vielleicht war es auch später so, dass er an die Heilmethoden der Kariri Xocó dachte, als er 1976 am Collège de France von einem "Aufstand der ‚unterworfenen Wissen'"[4] sprach. Wohl kann man auch das Konzept "unterworfenes Wissen" als Werkzeug nehmen und damit wie Walter Mignolo verfahren, das heisst: "move subjugated knowledge to the limits of the colonial difference where subjugated become subaltern knoweldges in the structure of coloniality of power."[5] Explizit thematisierte Foucault Kolonialismus und antikolonialen Widerstand in dieser Vorlesung nicht mehr.
Ich muss an dieser Stelle mit einer anderen Geschichte einsetzen.
Der Umgang mit Kämpfen und Widerstand stellte sich für Foucault in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bekanntermaßen allgemein als Problem dar. In der 1976er Vorlesung sprach er von der "Gefahr", dass unterworfene Wissen, "Wissenselemente, die man zu entstauben versucht hat, […] ihrerseits wieder kodiert und durch die einheitlichen Diskurse rekolonialisiert werden."[6] In der Rio-Vorlesung von 1974 kam Foucaults Zurückweisung der Möglichkeit eines Widerstandes, der sich außerhalb der Maschen von Machtnetzen bewegen bzw. sich an diesen nicht beteiligen würde, auf eindrückliche Art und Weise zum Ausdruck. Die Vorlesung begann mit einem Hinweis auf Ivan Illichs Medical Nemesis. The Expropriation of Health[7], einem Buch in dem der Autor – wie Foucault zusammenfasst – "die weltweite öffentliche Meinung darauf hinweist, auf welch problematische Weise die Institutionen des medizinischen Wissens und der medizinischen Macht derzeit funktionieren." (55) Foucault ging kurz auf einige dieser problematischen Funktionsweisen der Medizin ein, um später die "anti-medizinische" Haltung von Illich und seinen Schülern zu problematisieren. Er stellte fest: "Die Antimedizin kann der Medizin nur Tatsachen oder Entwürfe entgegensetzten, die in eine bestimmte Form von Medizin gekleidet sind". Bezüglich der Anti-Psychiatrie spitzte er zu: "Man schafft es nicht, aus der Medizinisierung herauszukommen, und sämtliche in diesem Sinne betriebenen Anstrengungen begeben sich wieder in die Hände eines medizinischen Wissens." (70) Schließlich nannte Foucault die zu verwerfenden Alternativen auch beim Namen: "Man darf die derzeitige Situation nicht in der Gestalt von Medizin oder Antimedizin […] von Rückkehr oder Nicht-Rückkehr zu einer Art natürlicher Hygiene oder zum paramedizinischen Bukolismus betrachten. Diese Alternativen sind sinnlos." (75) Dagegen schlug er vor: "Ich glaube, dass die erneute Erforschung der Geschichte der Medizin, die wir uns vergegenwärtigen können, dafür von einigem Nutzen ist: Es geht darum […], das historische Funktionsmodell dieser Disziplin seit dem 18. Jahrhundert besser kennen zu lernen, um zu erfahren, in welchem Maße es möglich ist, es abzuwandeln." (76) Während Foucault genau diese Historisierung in seiner Vorlesung – und auch anderswo – vornahm bzw. versuchte, schwieg er bezüglich aus dieser Historisierung abgeleitete Vorschläge zur "Abwandlung" der Medizin. Es könnte angemerkt werden – und es wurde, zumindest im Bezug auf ähnliche Fragestellungen angemerkt –, dass er mit seiner Konzeptualisierung von Macht und Widerstand bei solchen Fragen auch still bleiben musste. Foucaults Kritiker_innen erschien und erscheint diese (zwangsweise) Stille als großes Defizit seines Schaffens. Auch Foucault selber? – "Ich weiß nicht so recht, wie ich da herauskommen kann"[8], meinte er 1977.
Sah Foucault Ende der 70er Jahre einen Ausgang in einer Grenzüberschreitung, außerhalb Frankreichs, Europas und der USA? Offenbar. Ein postkolonialer turn hier? Nein. Einen solchen vermag ich im Rekurs auf "Völker", denen Foucault dann 1978 zuschrieb, "noch nie daran gewöhnt" gewesen zu sein "das Wort zu ergreifen" nicht festzumachen, ebenso wenig wie in seinen Ausführungen zum Iran.
Entscheidend ist, so denke ich, Foucaults Ideenbewegungen auch hier zu historisieren: Dass die Suche nach Alternativen zwar oftmals Beschäftigungen mit nicht-westlichen, nicht-europäischen Geschichten beinhaltet, diese aber zum Exotisieren "primitiver Völker" oder des "Orients" führten und damit koloniale Konzepte reproduzierten, darf für die 1970er Jahre als ein weit verbreitetes Phänomen diagnostiziert werden. Ebenso wie die Präsenz leicht esoterischer ‚Schwingungen' in so manchen Diskursen. Für eine Genealogie dieser Fehltritte ist hier kein Platz. Ich meine aber, dass sich sagen lässt, dass sie wie so viele andere auch Foucault auf einen Pfad führten, der an einem postcolonial turn vorbei führte. Gleichwohl blitzt in der 1974 entstandenen Momentaufnahme von Foucaults Ideenbewegung ein solcher turn als eine Option auf. Als Möglichkeit, die zu ergreifen er ‚zeittypischerweise' verpassen sollte.
[1] Foucault, Michel: Die "Ideenreportagen", in: ders.: Schriften in vier Bänden, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt am Main, Bd 3, 2003, 885-886, 886.
[2] Foucault, Michel: Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin?, in: ders.: Schriften in vier Bänden, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt am Main, Bd 3, 2003, 54-76.[3] Knowles, Scott: The Disaster Experts, Philadelphia 2011, 214.
[4] Foucault, Michel: Vorlesung vom 7. Januar 1976, in: ders:: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt 2001, 21.
[5] Mignolo, Walter: Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledge and Border Thinking, Princeton/Oxford 20122 (1. Aufl. 2010), 20.
[6] Foucault, Vorlesung vom 7. Januar 1976, 27.
[7] London 1975.
[8] Foucault, Michel: Das Spiel der Macht. Gespräch, in: ders.: Schriften in vier Bänden, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt am Main, Bd 3, 2003, 391-429, 407.