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Anti-Humanismus und Politik. Die "historische Möglichkeit" der Diskursanalyse

Der epistemologische Status der Foucaultschen Archäologie bzw. der Diskursanalyse ist nicht einfach zu bestimmen. "Woher" spricht diese Analyse? Wie liesse sie sich begründen, ohne sich in performative Selbstwidersprüche zu verwickeln – weil ja auch ihr Wahrheitsanspruch als blosser Diskurseffekt entziffert werden kann…? Ist sie ein philosophisches Verfahren, das nach Wahrheit fragt, oder eine Arbeit von Historikern, denen Geltungs- und Wahrheitsfragen egal sein können? Es ist kein Zufall, dass Foucault in der Archäologie des Wissens in den Schlusspassagen sein fiktives Gegenüber ihn fragen lässt: "Welchen Titel trägt Ihr Diskurs? Woher kommt er und mit welchem Recht spricht er? Wie könnte er sich legitimieren?", um dann noch etwas deutlicher zu fordern: "Auf jeden Fall sind Sie gehalten, uns zu sagen, was diese Diskurse sind, die Sie nun seit bald zehn Jahren hartnäckig verfolgen, ohne sie jemals näher auszuweisen. Mit einem Wort, was sind sie: Geschichte oder Philosophie?"[1]


Pitr-masque-street-art (credits:archeologue.over-blog.com)
Foucault antwortet auf diese selbstgestellte Frage durchaus ausweichend: "Mehr als Ihre Entgegnungen von vorhin bringt mich, wie ich gerne zugebe, diese Frage in Schwierigkeiten. Sie überrascht mich durchaus nicht, aber ich hätte sie gern noch einige Zeit offengelassen. Denn im Augenblick und ohne dass ich ein Ende absehen könnte, meidet mein Diskurs – weit davon entfernt, den Ort zu bestimmen, von dem aus er spricht – den Boden, auf den er sich stützen könnte." (S. 292) Also gleich eine doppelte Schwierigkeit: Seinem Diskurs fehle nicht nur die epistemologische Begründung, auf die er sich stützen könnte, oder vielmehr, er suche keine solchen Gründe, geschweige denn, dass er den Ort bestimmen könnte, von wo aus er spricht.

Foucault nun reagiert auf die insistierende Frage seines fiktiven Gegenübers mit einer dezidierten Verschiebung. Er kennzeichnet seinen eigenen Diskurs als "Diagnostik_" (S. 293, Hervorh. i.O.). Dass dies ein Begriff aus dem Feld der Medizin darstellt, ist kein Zufall. In dem im Erscheinungsjahr der _Archäologie, 1969, geschriebenen Aufsatz "Nietzsche, die Genealogie, die Historie" sagt er über den nietzscheanischen Genealogen, als den er sich hier ohne Zweifel selbst charakterisiert, und der nicht die Geschichtswissenschaft der Historiker, sondern die "wirkliche" Historie betreibe: "Die wirkliche Historie sieht sich die Dinge aus nächster Nähe an, doch dann reisst sie sich von ihnen los, um sie aus der Distanz zu betrachten (ähnlich dem Blick des Arztes, der eindringt, um eine Diagnose zu stellen und den Unterschied zu benennen). Der historische Sinn steht der Medizin sehr viel näher als der Philosophie."[2] In der Archäologie heisst es dazu analog, der archäologische Diskurs nehme "unaufhörlich die Differenzierungen vor, er ist _Diagnostik_" (S. 293, Hervorh. i.O.).

Diskursanalyse also heisst: angesichts einer körperlichen Struktur Unterschiede benennen, um eine Diagnose stellen zu können. Ich habe schon in meinem blog vom 8. April 2013 darauf hingewiesen, dass Foucault im Juni 1968 – also aus der Zeit, in der er die Archäologie fertigstellte –, sein eigenes, dezidiert anti-hermeneutisches Schreiben sehr explizit wiederum auf die Medizin bezog, genauer noch auf die Chirurgie und Anatomie, dem Beruf seines Vaters. Diese Analyse dient nicht dem Verstehen, sie hat nichts Versöhnliches, wie es auch in "Nietzsche, die Genealogie, die Historie" direkt im Anschluss an die schon zitierte Stelle über die Parallele zwischen Arzt und wirklichem Historiker heisst: "Denn Wissen dient nicht dem Verstehen, sondern dem Zerschneiden." (S. 182) Und zwar, wie man ergänzen muss, in explizit kritischer, ja politischer Absicht.

Das ist nun genau der Grund, warum Foucault die an ihn selbst gestellte Frage, von welchem Ort aus er spreche, als nicht-beantwortbar zurückweist und ergänzt, die Archäologie habe nicht die Absicht, eine Wissenschaft zu begründen – was ja heissen müsste, begründbare Wahrheitsansprüche zu erheben. Das Wort "Archäologie" bezeichne lediglich "eine der Angriffslinien für die Analyse verbaler Performanzen". (S. 294) Doch auch ein Angreifer muss irgendwo stehen; daher heisst es in der Einleitung zur Archäologie, es gehe ihr darum, "eine Methode der Analyse zu definieren, die von jedem Anthropologismus frei ist. Der Boden, auf dem sie ruht, ist der von ihr entdeckte. Die Untersuchungen über den Wahnsinn und das Auftauchen einer Psychologie […etc….] sind zu einem Teil blinde Versuche gewesen: aber sie erhellten sich allmählich nicht nur, weil sie nach und nach ihre Methode präzisierten, sondern weil sie in dieser Auseinandersetzung über den Humanismus und die Anthropologie den Punkt ihrer historischen Möglichkeit entdecken." (S. 28)

Das ist entscheidend: Dieser "Punkt ihrer historischen Möglichkeit" ist der politische Boden, auf dem die Archäologie bzw. die Diskursanalyse steht. Der Diskursanalytiker nimmt nicht einfach nur einen anti-hermeneutischen, sondern genauer noch einen anti-humanistischen, einen anti-anthropologischen Standpunkt ein. Er fragt daher in der Schlusspassage der Archäologie seinen fiktiven Gesprächspartner: "Welche Angst lässt Sie in Begriffen von Bewusstsein antworten, wenn man Ihnen über eine Praxis, über ihre Bedingungen, ihre Regeln und ihre historischen Transformationen spricht? Welche Angst lässt Sie jenseits aller Grenzen, Brüche, Erschütterungen, Skansionen nach dem historisch-transzendentalen Schicksal des Abendlandes suchen?" Und er ergänzt: "Auf diese Frage gibt es, wie ich meine, nur eine politische Antwort. Für heute wollen wir sie offenlassen." (S. 299)

Schade eigentlich. De facto aber hat Foucault die Antwort nicht offengelassen, sondern seine Kritik am Humanismus mehrfach als politische formuliert. "Sie wissen", bemerkte er in einem Gespräch von 1967, "dass derselbe Humanismus, der 1948 zur Rechtfertigung des Stalinismus und der Hegemonie der Christdemokraten gedient hat, auch der Humanismus ist, den wir bei Camus und in Sartres Existenzialismus finden. Letzten Endes war dieser Humanismus in gewisser Weise die kleine Hure des gesamten Denkens, der gesamten Kultur, der gesamten Moral, der gesamten Politik der letzten zwanzig Jahre."[3] Daher sagte er auch schon 1966: "Wir haben heute die Aufgabe, uns endgültig vom Humanismus zu befreien, und diesem Sinne ist unsere Arbeit politisch, zumal alle Regime im Osten wie im Westen ihre verdorbene Ware unter dem schützenden Dach des Humanismus feilbieten."[4]


TV, 1966 (credits: youtube)

Mit anderen Worten: die historische Möglichkeit der Diskursanalyse, die historische Existenzbedingung Foucaults eigenen Diskurses und damit der eigentliche Boden, auf dem er steht, ist nicht zuletzt der Kalte Krieg, oder genauer noch: Foucaults Gegnerschaft gegen die sich zugleich bekämpfenden wie überkreuzenden Humanismen von Ost und West. Als er 1981 nach seiner anti-humanistischen Kritik der 1960er Jahre gefragt wurde, antwortete er: "Man muss sich an den Kontext erinnern, in dem ich diesen Satz geschrieben habe. Sie können sich nicht vorstellen, in was für einen moralisierenden Morast von humanistischen Predigten wir in den Nachkriegsjahren versunken sind. Alle Welt war humanistisch. Camus, Sartre und Garaudy waren Humanisten. Auch Stalin war Humanist. Ich werde nicht taktlos sein und daran erinnern, dass auch die Anhänger Hitlers sich Humanisten nannten. Das stellt den Humanismus nicht bloss, mach aber ganz einfach verständlich, dass ich zu jener Zeit nicht länger in den Termini dieser Kategorie denken konnte. Wir befanden uns in einer vollkommenen intellektuellen Verwirrung."[5]

Diese politische Positionierung ist für die Foucaultsche Diskursanalyse konstitutiv. Allein, ist diese damit heute, nach dem Kalten Krieg, nach dem Poststrukturalismus und seit dem Internet, nicht gleichsam historisch überholt? Man könnte sagen: In einer Zeit, in der die Autorschaft und das Subjekt aus nicht zuletzt medientechnischen Gründen viel von Ihrem ehemaligen Nimbus verloren haben (ein Nimbus, der just in der so genannten Nachkriegszeit wiederbelebt wurde), im Zeitalter aber auch der Globalisierung, in dem eine abendlandfixierte Vorstellung vom zielgerichteten Verlauf der Geschichte endgültig jede Plausibilität verloren hat, hat auch die politische Funktion der Diskursanalyse, die Namenlosigkeit und anonyme Regelmässigkeit des Sprechens herauszuarbeiten, einiges von ihrer ehemaligen Dringlichkeit eingebüsst. Es stellt sich die Frage, wie das Konzept der Diskursanalyse heute gedacht werden muss.

Ich will dazu nur kurz drei Perspektiven andeuten; sie reflektieren in einer etwas allgemeinen Weise theoriepolitische Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre. Erstens, Stichwort Globalisierung: Die heutige Diskursanalyse müsste – und hat zum Teil auch tatsächlich – den Umstand stärker herausarbeiten oder in den Vordergrund stellen, dass alle Diskurse, die wir in "unserem" historischen Raum untersuchen, von der Grenzziehung zu in der Regel nicht-europäischen Kulturen und Geschichten in einer oft tiefen, kaum noch greifbaren Weise geprägt werden. Im Zeitalter der Globalisierung und der Migration muss Diskursanalyse diese Grenzziehungen stärker in den Fokus rücken.

Zweitens, Stichwort Medien: Die in den letzten zwanzig Jahren radikal veränderte Mediensituation sollte uns dafür sensibilisieren, stärker, als Foucault das selbst explizit gemacht hat – auch wenn die Hinweise nicht fehlen –, die medialen Bedingungen der Diskurse in den Fokus zu rücken. Auch das ist natürlich keine neue Einsicht; wichtig ist aber festzuhalten, dass in dem Masse, wie mediale Infrastrukturen einerseits immer technische Infrastrukturen sind, deren Errichtung und Unterhalt Geld und Macht unterschiedlicher Menge und Art erfordern, und die andrerseits das Wissen-Können determinieren, die Fragen nach der Medialität unmittelbar politische Fragen sind.[6]

Und drittens, Stichwort Sprechen-können, die Sprache ergreifen: Diskurse sind Regelmässigkeiten und Ordnungen des Sprechens, die wie alle Ordnungen die Konflikte und Machtverhältnisse vergessen lassen, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Diese Akzentuierung im Feld der Foucault'schen Diskursanalyse stellt also die politische Frage nach der Macht des Sprechen-könnens. Wir leben heute unter Medienbedingungen, die das Wuchern der Diskurse und das unregulierte Sprechen der Leute weitaus sichtbarer, persistenter und damit fassbarer sind als zu Foucaults Zeiten. Vielleicht verdienen die Vielfalt, die Widerständigkeit und die Unregelmässigkeiten des Sprechens heute mehr Aufmerksamkeit, als ein Diskursanalytiker in Zeiten der monopolartigen Massenmedien und des Kalten Krieges sich dies vorstellen konnte.



[1] Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (Paris 1969), S. 292.
[2] "Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: Schriften, Band II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 166-190. Zitat S. 182..
[3] "Wer sind Sie, Professor Foucault? [Gespräch mit P. Caruso]", in: Schriften, Band I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 770-793, Zitat S. 788.
[4] "Gespräch mit Madeleine Chapsal", in: Schriften, Band I, S. 664-670, Zitat S. 668.
[5] "Interview mit Michel Foucault", in: Schriften, Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 807-823, Zitat S. 821.
[6] Vgl. z.B. http://www.wordsinspace.net/wordpress/2013/05/19/deep-mapping-the-media-city-slides-from-helsinki-keynote/ http://blip.tv/oreilly-where-20-conference/lisa-parks-earth-browsing-satellite-images-global-events-and-visual-literacy-975839 – danke, Simon, für die Hinweise!

  1. Comment by Martin Lang

    "Diskurs" drückt zunächst das Ungenügen an einer Reihe von Termini aus, die in der neueren Geschichte der Geistes- / Sozial- / Human- / Kultur-Wissenschaften gebraucht wurden, von "Bewusstsein" bis "Geist", von "Text" bis "Sprache", von "Individuum" bis "Gesellschaft". Wenn wir solchen tendentiellen Überbegriffen wie Diskurs etwas Zeit gönnen zur Entfaltung (in verschiedenen Disziplinen), so ist damit den meisten (außer den Terminologie-Fanatikern) gedient. Foucault selber hat das vor der "Diskurs"-Ausrufung vorgeführt: man kann "Die Ordnung der Dinge" auch "Geschichte vom Aufstieg und Verfall der IDEA" nennen, mit dem Nebenakzent, dass es auch eine Geschichte des "Menschen" (als versuchten Vorzugsbegriffs nach dem Dieu fainéant) sein könnte. Dabei wartet der Leser vergeblich auf eine Stelle, wo Foucault behauptet, hier sei die exakte Definition von idea, idée, Vorstellung, etc. gegeben worden, sondern am Ende läuft es auf den alltagssprachlichen Gebrauch von "fast-nichts" hinaus: "war ja nur so'ne Idee", "da fehlt noch 'ne Idee Salz".
    Foucault stellt sich rhetorisch die Frage, was Diskurse sein sollen: Geschichte oder Philosophie. Wie man aus seinem Werk entnehmen kann, lehnt er das "oder" ab. "Geschichte" war einst der Leittitel der deutschen philosophischen Fakultät im 19. Jahrhundert, zugleich hatten es Außenseiter des 19. Jh.s wie Darwin, Marx, Nietzsche und Freud schwer in diese akademische Disziplinargemeinschaft Breschen zu schlagen mit ihren "Geschichten": der Lebewesen, der Gesellschaften, der Kulturen und der Individuen, denn es waren keine in der philosophischen Fakultät anerkannte Titel von "Politik und Religion" wie etwa Gott, Geist, Personen, Herrschergeschlechter, Länder, etc. Diese Außenseiter greift sich Foucault mehrfach in seinem "Diskurs" (so könnte man die 4000-Seiten Schriften doch auch bezeichnen?) auf, um sie nach Alternativen zur gängigen Historie, insbesondere Wissenschaftsgeschichte auszuhören.
    Dass Foucault gegen den "Humanismus" anschreibt, ist an vielerlei Stellen deutlich. Man sollte zunächst ein deftiges Diskurs-Beispiel zur Kenntnis nehmen, um sich zu verdeutlichen, gegen was da protestiert wird (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43064474.html SPIEGEL 1956/43 WISSENSCHAFT Kernwaffen – Die humane Bombe).:
    Der Vorsitzende der Amerikanischen Atomenergiekommission kündigt an, dass nun weniger Radioaktivität ("fallout") erzeugt werde mit neuartigen "nackten" Bomben; bisher habe man "angezogene" H-Bomben im Uranmantel verwendet, deren radioaktive Verseuchung der Umwelt in den letzten Monaten die internationale Atompsychose nährten. Nunmehr ist eine Millionenstadt wie Moskau mit einem einzigen Schlag zu vernichten, ohne dass die gesamte Menschheit von radioaktiven Todeswolken bedroht wird. Atom-Admiral Strauss (nicht der FJS – ML) bezeichnete deswegen die neuen Wasserstoffsprengkörper als humane H-Bomben: 'Die letzte Testreihe hatte große Bedeutung nicht nur vom militärischen Standpunkt, sondern auch vom Standpunkt der Humanität aus'. Zur Ehrenrettung der Zunft fügt der SPIEGEL Zwischenrufe eines amerikanischen Atomforschers an: 'Der Krieg ist ein schmutziges Geschäft … es gehört zur Verrücktheit unserer Zeit, dass erwachsene Männer ein Wort wie 'human' benutzen können, um eine H-Bombe zu beschreiben' (S. 54).
    Foucault lehnt es ab, sich in das Korsett der zwei Welten des "Kalten Krieges" pressen zu lassen, noch deutlicher ist seine wiederholte Ablehnung des Gebrauchs des "Ideologie"-Terms, es ging in der wechselseitigen Inanspruchnahme des "Humanismus" für sich und der gegenseite gegenüber des Absprechens des "Humanismus" nur um Wortgeplänkel, der Protest von Foucault und Althusser war also die bewusste Verweigerung einer beiderseits geltend geglaubten Diskursregel.

  2. Comment by Philipp Sarasin
    (Author)

    Ich finde die Vorstellung, dass die H-Bombe eigentlich eine "Humanismus-Bombe" ist, ziemlich überzeugend. Noch humanistischer wäre die N-, die Neutronenbombe, die die Werke dieses Menschen stehen lässt, um nur ihn selbst recht sauber zu eliminieren. Danke also für Ihren Kommentar! Ich denke tatsächlich, dass eine vernünftige Historisierung Foucaults – d.h. eine, die sein kritisches Potential nicht eliminiert – beim Kalten Krieg ansetzen muss.

  3. Comment by Simon Ganahl

    Ad zweitens (Stichwort Medien): Shannon Mattern hat gerade einen empfehlenswerten Essay zu dem Thema publiziert: http://places.designobserver.com/feature/infrastructural-tourism/37939/

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