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Foucault provinzialisieren

Drei Augenpaare blicken auf einen menschlichen Körper, der auf einem Operationstisch liegt, drei Paare weiss behandschuhter Hände fixieren und bearbeiten ihn mit medizinischen Instrumenten. Die Haut des Patienten ist schwarz. Wie die des einen Arztes. Der andere, deutlich ältere Arzt und die Operationsschwester sind weiss. Die Augen des Patienten sind weit aufgerissen. Er blickt zurück: zu den Ärzten, zu den Fotographen, zu dessen Betrachter_innen. Aufgenommen wurde die Fotographie, die ich in meinen Händen halte, in den 1940er oder 50er Jahren in der spanischen Kolonie Äquatorialguinea. Kein Schnappschuss, sondern eine sorgfältige Inszenierung franquistischer Kolonialpolitik durch ein staatlich finanziertes Fotographenteam.[1]

Solche im und in den kolonialen Raum gerichtete Blicke gerieten ihrerseits nicht in den Blick von Michel Foucault, dem französischen Chirurgensohn (siehe den Beitrag von Ph. Sarasin vom 8. April 2013 auf diesem Blog), oder vielmehr er hat in seinen Arbeiten den Blick nicht dorthin gerichtet. Foucaults Blindheit bezüglich kolonialer Vergangenheit und deren Folgen hat diejenigen Leser_innen von Foucault gewaltig zu irritieren, die den Eindruck haben, seine historischen Studien würden an gegenwärtige Fragen rühren, weil sie sie als politische Interventionen ernst nehmen (siehe hierzu den Eintrag von S. Ganahl auf diesem Blog). Dass viele Leser_innen dies tun, kommt nicht von ungefähr, bezeichnete Foucault selber doch sein Schreiben auch explizit als "Kampf". So ist in einem 1972 aufgenommen und in der Zeitschrift Arc erstmals abgedruckten Gespräch zwischen ihm und Gilles Deleuze zu lesen: "Jeder Kampf entfaltet sich um ein bestimmtes Machtzentrum, wie z.B. einen kleinen Chef, einen Hausmeister, einen Gefängnisdirektor, einen Richter, eine Gewerkschaftsvertreter, einen Chefredakteur. Diese Zentren namhaft machen, denunzieren, davon öffentlich sprechen – das ist bereits Kampf. Und zwar nicht, weil man bisher davon nichts wusste, sondern weil es die erste Umgehung der Macht, ein erster Schritt zu anderen Kämpfen gegen die Macht ist, wenn man dazu das Wort ergreift, wenn man das institutionelle Informationsnetz zerreisst, wenn man die Dinge beim Namen nennt, wenn man sagt, wer was getan hat, wenn man die Zielscheibe ausfindig macht."[2]


Poitiers. Monument des Coloniaux. Im Hintergrund: Michel Foucaults Geburtshaus an der rue Arthur Ranc

Was tun mit der Irritation? Zum einen könnte Foucaults Eurozentrismus selber erforscht werden. Dieser wäre in seinen verschiedenen historischen Kontexten zu analysieren, wobei Frankreichs offizieller (Nicht-)Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit, seine "colonial aphasia"[3] vielleicht der wichtigste wäre. Zum anderen kann der Theorie-Werkzeugkasten des Meisters entwendet und in koloniale Räume getragen werden. Genau dies haben seit Ende der 1970er Jahre eine Reihe von Autor_innen getan, die mit Foucaultschen Instrumenten just die Dinge und Zentren beim Namen genannt haben, ohne deren Berücksichtigung sich Modernitäten, Macht und Herrschaft in der Neuzeit nicht hinreichend denken lassen. Edward Said, Ann Laura Stoler, Timothy Mitchell, Martha Kaplan oder Peter Redfield haben gezeigt, dass sich verschiedene der von Foucault analysierten Machtformen und -technologien ganz wesentlich in den Kolonien bzw. zwischen Kolonie und Metropole entwickelt haben, dass das Panoptikon nicht nur in Kuba, sondern auch in Poona perfektioniert und die Idee dazu auch in Abgrenzung zum System der australischen Strafkolonie entwickelt wurde.[4]

Indem Achille Mbembe, David Scott oder Walter Mignolo koloniale Phänomene mit Foucaultschen Diskurs-, Biopolitik- oder Gouvernementalitäts-Konzepten untersucht haben, haben sie diese Konzepte selber weiterentwickelt und neue Begriffe wie beispielsweise denjenigen der necropolitics geprägt.[5] Diese Aneignungen haben stark dazu beigetragen, Foucaults Arbeiten global bekannt zu machen – auch über die postcolonial studies hinaus. In postkolonialen Debatten selber lösten sie zum Teil vehemente Kritik aus. Zahlreiche Forschende und Kulturschaffende wie etwa Aijaz Ahmad warfen beispielsweise Edward Said vor, gestützt auf Foucaultsche Diskurstheorien Kolonialismus nur auf der Ebene von Sprachphänomenen zu untersuchen oder in Anwendung totalisierender Machtkonzeptionen weder die spezifische Mechanik kolonialer Ausbeutung noch die Widerstände gegen diese adäquat zu erfassen.[6] Eine Vielzahl dieser Kritiker_innen haben aber ein Arbeiten mit Foucault nicht grundsätzlich zurückgewiesen, sondern sich seine Thesen angeeignet und dabei erneut transformiert. Entstanden ist so, was Thijs Willaert in seiner Dissertation als "intertextual web created in the interplay between Foucault and postcolonial studies" bezeichnet, in dem nicht nur Foucault die postcolonial studies prägt, sondern diese auch "Foucault" verändert haben.[7]

Foucault hat sich wenig um die Rolle des medizinischen regard in verschiedenen Kolonialgeschichten gekümmert. Dafür haben sich diverse Historiker_innen wie Megan Vaughn oder James Duncan mit der Frage auseinandergesetzt, welche Rolle der Kolonialmedizin – insbesondere die medizinische Musterung – im Rahmen kolonialer Biopolitik zukam.[8] Rosa Medina Doménech beispielsweise hat aufgezeigt, dass die eingangs erwähnte, in Äquatorialguinea praktizierte Kolonialmedizin ein Experimentierfeld war, in dem medizinische Verfahren und Medikamente ausgetestet und standardisiert wurden, die später in Spanien selber zum Einsatz kamen und die Kolonie dabei wie so oft als Laboratorium neuer Regierungstechniken figurierte.[9] Worauf die Autorin in ihrem Artikel auch hinweist, ist die Produktion von Geschlechterstereotypen und deren Wirkmächtigkeit im kolonialen Raum. Dieser Fokus auf Geschlechterverhältnisse, die einen weiterer blind spot Foucaults konstituierten, ist ein zentrales Anliegen in zahlreichen postkolonialen Anwendungen seiner Arbeiten. Dort, wo sich ein solcher Fokus – wie bei Emma Pérez, deren Arbeiten dem Feld der feministischen chican@ studies zuzuordnen sind, oder in Robert McRuers queerer crip theory – mit einer Analyse von Heteronormativität und able-bodiedness sowie der Widerstände gegen solche Normalisierungsprozeduren verbindet, entstehen scharfsinnige Auseinandersetzungen mit Macht, Subjektivierungsweisen und Kämpfen um und gegen diese, die m. E. gerade als politische Interventionen von grösster Bedeutung sind.[10]

Zuletzt noch dies: Emma Pérez gehört zu den postkolonialen Autor_innen, die auch die Modi akademischer Geschichtsschreibung und deren Grenzen problematisiert und andere Formen des Schreibens von Geschichte erprobt haben.[11] Solche Bewegungen scheinen mir ein wichtiger Aspekt der Provinzialisierung Foucaults – den Terminus verwendet Willaert in Anlehnung an Chakrabartys Provincializing Europe[12] –, ja der Auseinandersetzung mit Foucault überhaupt zu sein. So schliesse ich in der Hoffnung auf auch in diesem Sinne ‚aneignende' Blogbeiträge über und mit dem Meister auf dieser Plattform.



[1] Die Fotographie selber und Informationen zur Geschichte des Fotographen- und Film-Teams Hermic Films finden sich in: Ortín, Pere/Pereiró, Vic: Mbini. Cazadores de imágenes en la Guinea Ecuatorial, Barcelona 2006.
[2] Die Intellektuellen und die Macht. Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze, in: Foucault, Michel/Deleuze Gilles: Der Faden ist gerissen, übers. v. Walter Seitter, Berlin 1977, S. 86-100. S. 96.
[3] Stoler, Ann Laura: Colonial Aphasia. Race and Disabled Histories in France, in: Public Culture 23, 1, 2011, S. 121-156.
[4] Said, Edward: Orientalism. New York 2003 [1978]. Stoler, Ann Laura: Race and the Education of Desire: Foucault's History of Sexuality and the Colonial Order of Things. Durham/London 1995. Mitchell, Timothy: Colonising Egypt. Berkeley/Los Angeles/London 1991 [1988]. Redfield, Peter: Foucault in the Tropics: Displacing the Panopticon, in: Inda, Jonathan Xavier (ed.): Foucault and the Anthropology of Modernity, Oxford 2005, S. 50-79. Kaplan, Martha: Panopticon in Poona: An Essay on Foucault and Colonialism, in: Cultural Anthropology 10, 1, 1995, S. 85-98.
[5] Mbembe, Achille: Necropolitics, in: Public Culture 15, 1, 2003, S. 11-40. Scott, David: Colonial Governmentality, in: Social Text 43, 1995, S. 191-220. Mignolo, Walter D.: The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Durham 2012 (Siehe auch: Walter Mignolo: Thoughts on modernity/coloniality, geopolitics of knowledge, border thinking, pluriversality and the decolonial option: <> [Stand: 20.04.2012]).
[6] Ahmad, Aijaz: In Theory. Classes, Nations, Literatures, New York 2008 [1992].
[7] Willaert, Thijs: Postcolonial Studies After Foucault: Discourse, Discipline, Biopower, and Governmentality as Travelling Concepts, Giessen 2012. Verfügbar in: GEB: Giessener Elektronische Bibliothek: <> [Stand: 20.04.2012].
[8] Vaughn, Megan: Curing their Ills. Colonial Power and African Illness, Oxford 1991.
[9] Medina Doménech, Rosa: Scientific Technologies of National Identity as Colonial Legacies. Extracting the Spanish Nation from Equatorial Guinea, in: Social Studies of Science 39, 1 (2009), S. 81-112.
[10] Pérez, Emma: The Decolonial Imaginary. Writing Chicanas into History. Bloomington 1999.McRuer, Robert. Crip Theory. Cultural Signs of Queerness and Disability, New York 2006.
[11] Pérez, Emma: Forgetting the Alamo, or, Blood Memory, Austin 2009.
[12] Willaert, Postcolonial studies, S. 191. Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000.

  1. Comment by Maurice Erb

    Die Kritik an Foucaults "Eurozentrismus" ist irgendwie auch eine erweiterte Version der älteren Kritik an seinem "Frankozentrismus": Foucault sagt z.B. in "Wahnsinn und Gesellschaft" oft "Abendland", wo eigentlich nur Frankreich gemeint sein kann – und das wird ihm vorgeworfen, seit Übersetzungen seines berühmten Erstlings zirkulieren. Gerade wenn man bedenkt, dass Foucault mit seinem Denken einen hohen (intellektuellen und politischen) Einsatz spielte, stellt sich aber die Frage, ob man Foucault daraus einen Vorwurf machen bzw. deswegen gewaltig irritiert sein sollte. Das Zitat im Text weist ja darauf hin, dass Foucault die Kämpfe auf "Machtzentren" bezogen sah, und in diesem Sinn haben seine Bücher als "Kampf-Einsätze" oft einen wichtigen Bezugspunkt, und das ist nun mal Frankreich, die französische Kultur, das elitäre französische Bildungssystem, dessen Produkt Foucault selbst war (die genealogische Argumentation in "Wahnsinn und Gesellschaft" ist auch ein ganz präzise kalkuliertes, ironisch-subversives Echo auf den traditionellen Philosophieunterricht in Frankreich). Hätte sich Foucault mehr erlauben können, mehr erlauben müssen? Hätte er beispielsweise implizite Bezüge auf den Algerienkrieg in seine zeitgleich enstehende Habilitation einbauen sollen, die bereits mehrfach abgelehnt und umgearbeitet worden war? Vielleicht. Andererseits hätte es wohl einfach nicht ins Kalkül gepasst..
    Foucault kritisch zu hinterfragen und zu historisieren, ist gewiss notwendig.. ob Foucaults (vielleicht ganz bewusste) "Beschränktheit" oder "Provinzialität" irritieren muss, ist fragwürdig – gerade wenn man sich auch biographische Details wie seine aktive Teilnahme am "Mai 1968" in Tunis oder den als visiting professor in den Staaten oft bekundeten Überdruss am intellektuellen Leben in Paris vergegenwärtigt..

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