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Ist Foucaults dispositif ein Akteur-Netzwerk?

Das network ist in aller Munde, aber nur ein paar Unbeugsame sprechen noch vom dispositif.[1] Zu gestrig, zu strukturalistisch klingt das Wort in einer Zeit, wo die Institutionen in der Krise sind, sei es das Gefängnis oder die Fabrik, das Spital oder die Ehe. Der Begriff, der aus dem Paris der 1970er Jahre stammt, wurde im Deutschen mit Anlage, Vorrichtung und Dispositiv, im Englischen mit apparatus, mechanism und deployment übersetzt. Michel Foucault führte das dispositif zwar nicht ein,[2] prägte seine Bedeutung jedoch nachhaltig. Als 1977 in einer Diskussion die Frage aufkam, was der Ausdruck bezeichnen solle, sagte Foucault, es handle sich um ein "ensemble résolument hétérogène", bestehend aus Gesagtem wie Ungesagtem. Das dispositif sei das "réseau" zwischen diesen Bestandteilen.[3] Ein Netz also, das diskursive und materielle Elemente verknüpft? Mit anderen Worten: Nimmt das Konzept des dispositif die Idee vom Akteur-Netzwerk vorweg?

Der Gedanke ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn mit dem dispositif öffnet sich Foucaults Werk der gegenständlichen Welt: Die Analyse beschränkt sich nicht mehr auf Diskurse, auf Regelmäßigkeiten in Textserien, sondern bezieht auch Dinge, Ereignisse, Gebäude, Verhaltensweisen ein. Die posthume Erklärung von Gilles Deleuze, dass sich die Foucault'schen dispositifs aus Wissensformen, Machtbeziehungen und Subjektivierungsprozessen zusammensetzen,[4] gründet auf dem Gebrauch des Begriffs in Surveiller et punir und La Volontè de savoir. Während das "dispositif panoptique" den Fokus auf jene Kräfteverhältnisse richtet, die Aussagen und Evidenzen um 1800 als Gefängnis institutionalisieren, entwickelt das "dispositif de sexualité" eine Typologie im 19. Jahrhundert, die das hysterische Weib, das masturbierende Kind, das familiäre Paar und den perversen Erwachsenen umfasst.[5] Der Einwand, dass Foucaults Subjektivierungen erst im Sinn von Deleuze schöpferisch wurden, als das dispositif in seinem Denken kaum mehr eine Rolle spielte, führt zum Kern des Problems.


Innenansicht des panoptischen Presidio Modelo auf Kuba (Quelle: Wikipedia)

Im Akteur-Netzwerk, wie es Bruno Latour begreift, finden sich die erwähnten Achsen des dispositif wieder. Es gibt erstens die Wissensformen als versammelnde Aussagen und Vorrichtungen der Einschreibung, zweitens die Machtbeziehungen als Handlungen, die auf andere Handlungen einwirken, und drittens die Prozesse der Subjektivierung als Existenzweisen, denen sein aktuelles Projekt gewidmet ist. Latour betont allerdings, dass die Akteure keine Platzhalter seien, keine Marionetten in einem System, sondern aktive Spieler, Mittler, die Unterschiede hervorrufen.[6] Sein Mitstreiter Michel Callon weist die Ähnlichkeit, indem er sich zum deleuzianischen "Gefüge" bekennt, ausdrücklich zurück: "The notion of agencement is richer than that of dispositif (as defined by Michel Foucault), since it implies the idea of (distributed) action, whereas the dispositif is more static."[7] John Law räumt zwar den gemeinsamen Machtbegriff ein, lehnt aber jede Verallgemeinerung ab, zumal die Akteur-Netzwerk-Theorie "empirical stories about processes of translation" erzähle.[8]


Detail aus Bruno Latour und Emilie Hermant: "Paris ville invisible" (Paris 1998, S. 8)

Diese Gegenüberstellung von konkreter Beschreibung und abstrakter Erklärung lässt sich mit einem Beispiel erhellen. Denn Latour setzt Foucaults Panoptikon sein Konzept des Oligoptikons entgegen. Während es sich bei dem Gefängnisplan von Jeremy Bentham um eine "Utopie" totaler Überwachung handle, würden "Rechenzentren" wie Sternwarten oder Statistikbüros schmale, aber robuste Ansichten in bestimmte Richtungen eröffnen.[9] Er verfolgte den oligoptischen Ansatz in dem Werk Paris ville invisible, das 1998 als Buch und 2004 im Internet erschien. Die Bilder von Emilie Hermant und Latours begleitende Texte führen von jenem Café zu diesem Markt und jenem Labor zu diesem Museum – eine Montage von Einzelansichten, die sich bewusst zu keinem Panorama fügen. In meinen Augen ist das Ergebnis jedoch keine "thick description"[10], wie sie Latour im Anschluss an Clifford Geertz anstrebt, sondern eine Reportage städtischer Repräsentationen und Infrastrukturen, die nicht über eine individuelle Erfahrung hinausgeht.


Screenshot der Website "Paris ville invisible"

Was das Foucault'sche Gegenstück betrifft, so ist in Surveiller et punir einerseits vom "dispositif panoptique" die Rede, von der konkreten Anlage, und anderseits von ihrer Funktion als "diagramme d'un mécanisme de pouvoir ramené à sa forme idéale"[11], das heißt als abstraktes Konzept eines Kräfteverhältnisses: "tatsächlich ist es eine Gestalt politischer Technologie, die man von ihrer spezifischen Verwendung ablösen kann und muß."[12] Das disziplinarische Prinzip, alles zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden, stellt eine Machtstrategie dar, die seit ihrer Einführung in vielfältiger Weise umgesetzt wurde. In Benthams Gefängnis konnte noch ein Wärter im Zentralturm sitzen, um die Häftlinge in den Zellen zu beobachten. Heute werden öffentliche Plätze von Kameras überwacht, die ihre Kontrolle automatisiert erledigen – ein mediales Panoptikon, gegen das sich künstlerischer Widerstand regt. Die Karte "Routes of Least Surveillance", die in Lize Mogels und Alexis Bhagats Atlas of Radical Cartography enthalten ist,[13] verdeutlicht etwa, wie Überwachungskameras den Alltag in Manhattan beeinflussen.


Karte 'Routes of Least Surveillance' aus Lize Mogel und Alexis Bhagat (Hg.): "An Atlas of Radical Cartography" (Los Angeles 2007)

Foucaults dispositif beschreibt gleichsam eine verdichtete Wirklichkeit. Es ist für den Einzelfall gültig, bleibt aber nicht auf ihn beschränkt. Der Unterschied zum Akteur-Netzwerk besteht in dieser typologischen Qualität der Analyse, die sich aus der genealogischen Perspektive des Forschers ergibt. Warum haben so viele Leser Foucaults den Eindruck, seine historischen Studien würden an gegenwärtige Fragen rühren? Weil es politische Interventionen sind. Nicht in dem Sinn, dass er den Leuten sagt, was sie tun oder denken sollen, aber als Aufklärung der eigenen Lage und als Aufruf zu ihrer Veränderung. Die Untersuchung jener dispositifs, die unser Leben bestimmen, kann sowohl Chancen bieten, Strukturen aus Wissen und Macht aufzubrechen, als auch Wege bahnen, neue Subjektivierungen zu finden. Wer hingegen den Akteuren nachfolgt, bekräftigt nur ihre Netzwerke.



[1] Zu ihnen gehört etwa Giorgio Agamben: Che cos'è un dispositivo? Rom 2006.
[2] Der Begriff findet sich vorher u. a. bei Jean-Louis Baudry: "Cinéma: effets idéologiques produits par l'appareil de base". In: Cinéthique. No. 7–8/1970, S. 1–8, sowie bei Jean-François Lyotard: Des dispositifs pulsionnels. Paris 1973.
[3] Michel Foucault: "Le jeu de Michel Foucault". In: Michel Foucault: Dits et écrits. Bd. III: 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Paris 1994, S. 298–329, hier: S. 299.
[4] Vgl. Gilles Deleuze: "Qu'est-ce qu'un dispositif?" In: Michel Foucault philosophe. Recontre internationale Paris 9, 10, 11 janvier 1988. Paris 1989, S. 185–195.
[5] Vgl. Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris 1975, S. 197–229, sowie Michel Foucault: La Volonté de savoir. Paris 1976 (= Histoire de la sexualité, Bd. 1), S. 99–173.
[6] Vgl. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. New York 2005, S. 153f.
[7] Michel Callon: "Europe wrestling with technology". In: Economy and Society. Nr. 1/2004 (Jg. 33), S. 121–134, hier: S. 122.
[8] John Law: "Notes on the Theory of the Actor-Network: Ordering, Strategy and Heterogeneity". In: Systems Practice. Nr. 4/1992 (Jg. 5), S. 379–393, hier: S. 387.
[9] Vgl. Bruno Latour: Reassembling the Social, S. 181.
[10] Bruno Latour: Reassembling the Social, S. 136.
[11] Michel Foucault: Surveiller et punir, S. 202 u. 207.
[12] Zit. nach der Übers. v. Walter Seitter in Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1994, S. 264.
[13] Vgl. Institute for Applied Autonomy: "Tactical Cartographies". In: Lize Mogel u. Alexis Bhagat (Hg.): An Atlas of Radical Cartography. Los Angeles 2007, S. 28–37.

  1. Comment by frank

    ich finde das einen sehr interessanten eintrag. kann es vielleicht sein, dass hier nur ein teil eines längeren textes steht? denn ich verstehe hier z. b. gar nicht: "Der Einwand, dass Foucaults Subjektivierungen erst im Sinn von Deleuze schöpferisch wurden, als das dispositif in seinem Denken kaum mehr eine Rolle spielte, führt zum Kern des Problems."
    kann da jemand etwas dazu sagen?

    der autor spricht von politischen interventionen bei foucault. ich wollte darauf hinweisen, dass dieter thomä in einer besprechung von foucaults "das giftige herz der dinge" auch von politischen interventionen spricht (es geht in "das giftige herz der dinge" auch darum, dass foucaults vater ein chirurg war): "Auf einen Schlag wird nachvollziehbar, warum so viele Bücher Foucaults im "medizinischen Milieu" angesiedelt sind: "Womöglich ließ mir die Weise medizinischer Erkenntnis deswegen keine Ruhe, weil sie der Geste meines Schreibens innewohnte." Vor allem aber wird erkennbar, wie dieses Erbe Foucault in ein Pendeln zwischen reiner Theorie und politischer Intervention hineinversetzt hat."
    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/michel-foucault-das-giftige-herz-der-dinge-das-leben-beginnt-ausserhalb-des-papiers-11862132.html
    ich habe den eindruck, dieser schluss deckt sich mit dem schluss in diesem beitrag.

  2. Comment by Simon Ganahl

    Vielen Dank für Ihren Kommentar, und bitte entschuldigen Sie die späte Antwort. Da wir gerade erst online gegangen sind, läuft technologisch noch nicht alles ganz rund, aber es wird langsam.

    Was Ihre Frage betrifft: Die Größe des gewählten Themas ist der Enge des Blogformats, um ehrlich zu sein, nicht ganz angemessen. Der zitierte Satz bezieht sich auf die Rolle der Subjektivierungen in Foucaults "dispositifs". Nach der posthumen Erklärung von Deleuze handelt es sich um schöpferische Prozesse, seien sie individuell oder kollektiv, die Strukturen aus Wissen und Macht aufbrechen und verändern können. Obwohl sich diese Lesart auf Foucaults Untersuchungen der antiken Selbstpraktiken gründen lässt, verschweigt sie die passiven Subjektivierungen, die in Foucaults Dispositiven analysiert werden. Indem Agamben betont, dass es auch in den (medialen) Dispositiven unserer Zeit um Prozesse der "Desubjektivierung" geht, knüpft er an diese zweite Linie an, die über Foucault auf Heideggers "Gestell" zurückführt. Die Vertreter des Akteur-Netzwerks schließen hingegen an den Gefüge-Begriff von Deleuze an, um ihre Theorie als poststrukturalistisch zu markieren. Ich denke, dass der Preis für diese "agency", nämlich der weitgehende Verzicht auf politische Kritik, zu hoch ist.

    Wegen dem Buch "Das giftige Herz der Dinge" möchte ich Sie auf die Besprechung verweisen, die Philipp Sarasin noch am Tag Ihres Kommentars in unserem foucaultblog veröffentlichte.

  3. Comment by Henrik Ernstson

    I really appreciate this blog piece, especially the combination of text and images. Thanks. Although I have not used by German for quite some time I think I got most of this. It summarises important points from a debate I am still learning from and I though I add something from my own work.

    I have used ANT in relation to Foucault to trace (more-than-human) collective action among 'grassroots' activists in Cape Town. I point to John Law and (and Annmarie Mol) in an article named 'Re-translating nature in post-apartheid Cape Town'. (Google or visit my blog In Rhizomia, www.rhizomia.net). I have added an excerpt for this here that might interest this forum:

    The idea that dispositif and actor-networks are conceptually interlinked have been entertained by several. For me it really connects to my work on different ways of knowing Capetonian urban natures—contrasting more expert-biased actor-networks around 'Biodiversity Mapping' and 'Ecosystem Services', with those of in-place way of knowing that aligns plants, wetlands and parks with memories of apartheid and colonial oppression. In my article "Re-translating nature in post-apartheid Cape Town", I draw upon John Law's argument that actor-network theory is a 'scaled down' (and more humble) mode of Foucault's work on regimes of power/knowledge. For John Law these are 'material semiotics', which links to Annmarie Mol's work on ontological politics. I write in my piece on Bottom Road the following (link to article here):

    "Departing from a Foucauldian notion of power, ‘empowerment' is in this paper thought about as ‘the ability to act and change the order of things'. This includes changes in material and symbolic order; or in other words, when collective action changes the distribution of material resources and the way reality is conceived, including shifting or shuffling who can claim to be in the know (cf. Swyngedouw, 2009). Following this notion of empowerment, the following paragraphs shows theoretically how ANT provides an ethnographic repertoire to observe, record and report concrete action, but also to analyse epistemological and ontological dimensions of collective action.

    In recording action, ANT might be most notorious for allowing non-humans like plants, animals, and machines to be actors, or actants, on par with humans in producing action. For instance, Callon (1986) allowed sea currents and scallops, alongside scientists and fishers to participate in building collective action, and Law (2003) described how the Portuguese held together their vast 16th century empire through boat and navigation devices. However, ANT's notion of actor is profoundly relational (Harman, 2009). ANT holds that an actor is its relations, and consequently that action can only be materially produced through stabilizing networks of relations that can carry, or translate, action across space to make effects—the ability to ‘act at a distance' is performed through aligning, or negotiating a string of mediators that all need to actively participate to carry action (Latour, 2005; Law, 2009; Murdoch, 2006). Rather than placing agency within individuals, or within human groups, ANT thus plays with the idea that the ability to act and change the order of things, lies in stabilizing heterogeneous collectives of humans and things—a distributed agency (see e.g. Latour, 1994, 1996, 2010; Murdoch, 2006: 68). The collective—or the heterogeneous actor—carries its agency distributed across many relations.

    Collective action is however more than the movement or translation of physical and material action, but also about constructing knowledge and shifting cultural codes of meaning (Melucci, 1996). In relation, Law has suggested that actor-networks "can be seen as ‘scaled-down' versions" of Foucault's discourse or episteme, as the tracing of "particular translations […] rather than a diagnosis of an epochal epistemic syntax" (Law, 2009: 145). Importantly for this paper, Law (2009) therefore prefers to speak about actor-networks as a "material semiotics", to emphasize that things and people, in stabilizing relations to one another, come to code a way of knowing and being through their relation to one another (see also Mol, 2010)). He emphasizes that these stabilizations are not rigid, but happen in fluidity; what is traced are provisionally stable arrangements, in continuous need of re-enactment to remain. "

    Best regards,
    Henrik Ernstson
    University of Cape Town and Stockholm University

  4. Comment by Simon Ganahl

    Thank you for the comment, Mr. Ernstson. It's a pleasure to read that our foucaultblog assembles researchers with similar interests. Regarding your excerpt, I would like to pose the main question, that is agency. By emphasizing ANT's approach of distributed action, you seem to interpret it as an intentional process. First, you define "empowerment" as "the ability to act and change the order of things." Foucault describes these changes in the history of knowledge as great discontinuities that cannot be traced back to individual actors. Who causes the shifts? You write:

    "Rather than placing agency within individuals, or within human groups, ANT thus plays with the idea that the ability to act and change the order of things, lies in stabilizing heterogeneous collectives of humans and things—a distributed agency."

    "Dispositifs" might be seen as stabilized heterogeneous collectives of humans and things. These stabilizations, however, are contingent regulations of shared desires whereas your notion of "ability" implies a deed. In that case, who is the actor? How can social structures be broken and changed? Well, not within the power-knowledge settings, but through processes of subjectivation that are collective and artistic.

    As far as John Law's view is concerned that actor-networks are kind of "scaled-down" versions of Foucault's epistemes, I want to mention two thoughts. To begin with, the Foucauldian counterpart would be the explicitly material "dispositif," not the rather textual "épistémè." Moreover, the contrast of concrete actor-networks vs. abstract "dispositifs" doesn't work because Foucault's concept is both at once. Here is my example in the English translation of "Surveiller et punir":

    "The panoptic mechanism [dispositif panoptique] arranges spatial unities that make it possible to see constantly and to recognize immediately. […] But the Panopticon must not be understood as a dream building: it is the diagram of a mechanism of power reduced to its ideal form [le diagramme d'un mécanisme de pouvoir ramené à sa forme idéale]; its functioning, abstracted from any obstacle, resistance or friction, must be represented as a pure architectural and optical system: it is in fact a figure of political technology that may and must be detached from any specific use."

    The panopticon is a concrete "dispositif" as well as an abstract "diagramme." Its analysis describes a condensed reality and has a typological quality that is missing in actor-network theory.

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