Andere Körper: Foucault, die Heterotopien, die Schnittstellen
Patrick Kilian
December 20, 2013 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.31 editorial review CC BY 4.0 |
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Keywords: body | cyborg | genealogy | heterotopia | media
"Die Genealogie stellt als Analyse der Herkunft eine Verbindung zwischen Leib und Geschichte her. Sie soll zeigen, dass der Leib von der Geschichte geprägt und von ihr zerstört wird." [1] Der Leib bzw. der menschliche Körper hat Geschichte – er "ist der Ort der Herkunft; auf dem Leib findet man die Stigmata vergangener Ereignisse; aus ihm erwachsen die Begierden, Schwächen und Irrtümer; in ihm verschlingen sie sich miteinander und kommen plötzlich zum Ausdruck; aber in ihm lösen sie sich auch voneinander, geraten in Streit, bringen sich gegenseitig zum Verlöschen und tragen ihren unüberwindlichen Konflikt aus" (Nietzsche, die Genealogie, ebd.). Im Anschluss an Friedrich Nietzsche hat Foucault in diesen Zeilen auf die Historizität, aber auch die Räumlichkeit des Körpers hingewiesen, hat ihn als einen Ort, ja vielleicht sogar ein Schlachtfeld der Geschichte konfiguriert. Wenn man mit Foucault über den Körper nachdenken will, so muss man nach den Praktiken, Diäten, Technologien und Machtverhältnissen fragen, die diesen zum Vorschein gebracht haben. Man muss allerdings auch nach den Orten fragen, an denen er erschien und in denen er schließlich selbst zum Raum wurde. Ich will versuchen, diesen Zusammenhang von Körper und Raum zu beschreiben, und dabei einer Spur folgen, die Foucault in zwei kurz hintereinander gehaltenen Radiovorträgen auf France Culture selbst gelegt hat.
Screenshot aus David Cronenbergs Film "Videodrome" (1983)
Am 7. Dezember 1966 sprach Foucault im Radio über "Die Heterotopien", und meinte damit jene "vollkommen anderen Räume", die von der Gesellschaft erfunden und "in einem Nirgendwo" an ihren Rändern verortet wurden. [2] In ihrer spezifischen Andersartigkeit "bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind" (Die Heterotopien, S. 14). Sie liegen damit quer zu den natürlichen Räumen und bilden als "Gegenräume" letztlich "Orte jenseits aller Orte" (ebd., S. 11) heraus. Als fluide Hybride gleiten sie auch durch die Zeit, verschieben ihre Territorien und Grenzzonen in immer neuer Weise, sind schwer fassbar und nicht jedem zugänglich. Gerade weil Foucault genau zwei Wochen später, am 21. Dezember, ebenfalls auf France Culture unter dem Titel "Der utopische Körper" auch über den menschlichen Leib gesprochen hatte, und die Abschriften beider Vorträge in einem gemeinsamen Band veröffentlich wurden, könnte dies dazu einladen, beide Texte miteinander zu lesen. [3] Aber auch, weil Foucault den Körper hier ebenfalls als eine Art Raum beschreibt, der in ambivalenter Weise zum einen als "das genaue Gegenteil einer Utopie […] das kleine Stück Raum, mit dem ich buchstäblich eins bin" (ebd., S. 25) erscheint; zum andern aber gleichzeitig "stets anderswo" steht und "mit sämtlichen ‚Anderswos' der Welt verbunden" (ebd. 34) ist. Verweist dieses "Anderswo" des Körpers sowie seine Verbundenheit mit anderen Orten und Räumen, in die er konvergiert und durch die "innerer und äußerer Raum" (ebd., S. 33) ununterscheidbar werden, nicht auf die Heterotopien? Und wäre es damit nicht denkbar, daran anknüpfend auch nach den "vollkommen anderen Körpern" zu fragen, die als "Gegenkörper" mehrere Körper an einem Ort zusammenbringen? Wenn ja, welche Gestalt könnten diese Heterobodies haben, und wo sind sie zu suchen?
Das 20. Jahrhundert scheint den Traum der "anderen Körper" in geradezu besessener Weise geträumt und in immer neuen Konzepten und Projekten realisiert zu haben. Bereits Arnold Gehlen nennt den "Organersatz" durch Technologie als eine der zentralen Kulturleistungen des Menschen. [4] Er verweist dabei auch auf Norbert Wieners Konzept der "Menschmaschine" [5], einem kybernetisch inspirierten Modell der gesteigerten Interaktion zwischen Körper und Technologie, das 1960 in der von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline imaginierten Ikone des Cyborg [6] sein ikonisches Äquivalent finden sollte. Auch die Medien wurden in diesem Zuge als "Erweiterungen" des menschlichen Körpers, als Extensions of Man, gedacht, wie Marshall McLuhan bereits emblematisch im Titel seiner zur Medienbibel avancierten Schrift Understanding Media luzide prognostizierte. [7] In jüngster Zeit wurden die vor allem technologisch verstandenen "Erweiterungen" nun unter dem Leitbegriff des Human Enhancements als "Verbesserungen" des Körpers weiterentwickelt. Der Mensch greift zunehmend auf seine Umwelt aus und vernetzt seinen Körper mit seiner Umgebung. Dass diese Entwicklungen und Utopien allerdings auch in die historischen Konflikte ihrer Zeit eingeschrieben sind, und Körper und Technologie zum Schlachtfeld dieser Kriege wurden, gilt es hierbei stets mitzudenken. All das ist nicht neu und bereits seit Längerem Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung. Dennoch könnte es interessant sein, Foucaults Konzept der Heterotopien in Gestalt eines Heterobody auf diese Debatte zu beziehen und aus der Suche nach den "anderen Räumen" eine Suche nach den "anderen Körpern" abzuleiten.
Screenshot aus David Cronenbergs Film "Videodrome" (1983)
Heterotopien – und wie ich vorschlagen will: Heterobodies – sind durch ein komplexes System von Ein- und Ausschließungen definiert. So könnte "die Tatsache […], dass Heterotopien stets ein System der Öffnung und Abschließung besitzen, welches sie von der Umgebung isoliert" (Heterotopien, S. 18), uns dazu bringen, die Körper-Phantasien und Technologien nicht mehr nur als bloße "Erweiterungen" zu begreifen. Als eigenständige Orte sind die "anderen Räume" zwar in "unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten" (ebd., S. 9f) mit den Bereichen des Alltäglichen vernetzt, bilden jedoch nicht einfach deren Ausdehnungen und Uferzonen. Sie folgen vielmehr spezifischen, anders strukturierten Logiken und entziehen sich den Gesetzen der konventionellen Räume. "Die Heterotopie ist ein offener Ort, der uns jedoch immer nur draußen lässt" (ebd., S. 18); ihr Funktionieren wird durch eine Grenze – und gerade nicht durch deren Abwesenheit – garantiert. Übertragen auf den Körper würde dieses Bild uns dazu anhalten, die Technologien, die kybernetischen Kreisläufe und die vielfältigen Formen eines Organ- und Körperersatzes nicht mehr nur nach dem Vorbild einer Erweiterung, bzw. dem oft bemühten Bild einer Prothese, einfach zu unserem Körper hinzudenken. Vielmehr sollten Greifarm, Datenskelett, Computer-Speicherzelle, digitales Gedächtnis, Elektronengehirn und Denkmaschine, ihrer körpermetaphorischen Herkunft folgend, als eigene und damit als andere Körper mit einer spezifischen Eigenstruktur erschlossen werden.
Es würde dabei nicht darum gehen, die Konvergenzen und Interferenzen zwischen Körper und Technologie zu leugnen, sondern deren räumliche Knotenpunkte, Grenzübergänge und Zwischenräume des Austausches stärker zu betonen. Wenn diese Übergangszonen an "ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen" (ebd., S. 14) bringen, so würde dies ermöglichen, auch die Übersetzungsmechanismen zwischen den Körpern an diesen Stellen zu untersuchen. Jede trading zone wäre damit immer auch eine translation zone. [8] Bereits Douglas C. Engelbart, einer der frühen Computer-Pioniere, hat auf die wichtige Funktion der "Schnittstelle" als körper-technologischer Austauschzone, aber auch als Grenze hingewiesen: "the term ‚man-machine-interface' has been used for some years to represent the boundary accross which energy is exchanged between the two domains." [9] Deutet man diesen computertechnischen Begriff um, und verwendet ihn als kulturwissenschaftlich-historisches Konzept, so würde dies dazu anregen, den Blick verstärkt auf die "Schnittstellen" körperlich-technologischer Modifikationen und weniger auf die scheinbar übergangslosen "Erweiterungen" zu richten. Als Grenzen müssen diese Areale gleichermaßen auf ihrer Permeabilität sowie auf ihre Undurchlässigkeiten hin geprüft werden. Charakteristika, die Foucault sehr explizit auf den Körper übertragen hatte: "Unverständlicher Körper, leicht zu durchdringender und opaker Körper, offener und geschlossener Körper. In gewissem Sinne ist er vollkommen sichtbar. […] Und zugleich ist dieser doch so sichtbare Körper gleichsam in einer Unsichtbarkeit gefangen, von der er ich ihn niemals zu befreien vermag." (Der utopische Körper, S. 29). Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit liegen ebenso nah beieinander wie Innen und Außen, Körper und Nicht-Körper, Organe und Technologie, Raum und Gegenraum – die Verschiebungen ihrer Grenzverläufe werden von ihren gemeinsamen Schnittstellen her organisiert. Foucault selbst hatte die historischen Einschreibeprozesse auf den Körper als einen "unüberwindlichen Konflikt" (Nietzsche, die Genealogie, S. 174) beschrieben; möglicherweise Anlass, die Schnittstellen auch als Kampfzonen zu denken.
[1] Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. II, 1970–1975, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 166–190, hier: S. 174.
[2] Michel Foucault: Die Heterotopien, in: ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 11f.
[3] Michel Foucault: Der utopische Körper, in: ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin: Suhrkamp 2013.
[4] Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 8.
[5] Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt/M: Alfred Metzner Verlag 1952.
[6] Manfred E. Clynes u. Nathan S. Kline: Cyborgs and Space, in: Astronautics 9 (September 1960), S. 26–27 u. 74–76.
[7] Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, New York: McGraw-Hill 1964.
[8] Vgl. Peter Galison: Computer Simulations and the Trading Zone, in: Peter Galison / David J. Stump (Hgg.): The Disunity of Science: Boundaries, Contexts, and Power, Stanford, California: Stanford University Press 1996, S. 118–157; Emily Apter: The Translation Zone: A New Comparative Literature, Princeton: Princeton University Press 2005.
[9] Douglas C. Engelbart: Augmenting Human Intellect: A Conceptional Framework (Summary Report), Washington D.C. 1962, S. 20.