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Volkseinheit und neue Bewegungen. Foucault und die Revolution

Im Text Was ist Aufklärung? (1984) definiert Foucault das gemeinsame Band seiner Arbeiten nicht allein im Rekurs auf die Frage der Aufklärung, sondern auch auf die der Revolution – ausgehend von Kants Streit der Fakultäten verstanden als "Ereignis, als Bruch und Umsturz in der Geschichte, als Scheitern, doch zugleich auch als Wert, als Zeichen der menschlichen Gattung".[1] Im gleichen Jahr spricht Foucault von drei Momenten, durch welche die Aufklärung neue Aktualität gewann: die wissenschaftlich-technische Rationalität, die Geschichte der Revolution und die postkoloniale Kritik. Auf diese Weise "kehrt die Aufklärung wieder: zugleich als eine Weise, in der sich der Okzident seiner aktuellen Möglichkeiten und der ihm zur Verfügung stehenden Freiheiten vergewissert, und als eine Weise, ihn nach seinen Grenzen (…) zu fragen" (Schriften IV/949). Aufklärung, Rationalität, Revolution und postkoloniale Kritik: eine brisante Verbindung, die seit den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Einsicht geführt hat, dass nicht nur die Aufklärung, sondern auch die moderne Revolution nie ein auf Europa oder den ‚Westen' zentriertes Phänomen war.[2]

Kann Foucault also ein Vorkämpfer für die Entwicklung eines postkolonialen Revolutionsbegriffs gelten? Zumindest die von ihm im Rückblick betonte Bedeutung der Revolution für seine Arbeiten bestätigt allein schon ein kurzer Blick ins Register der Schriften, auf die ich mich im Folgenden konzentriere. Dies allein wäre allerdings noch kein überraschender Befund, muss doch im Zeitraum zwischen 1968 und 1979 von einer in diesem Ausmass einzigartigen Konjunktur der Revolutionen gesprochen werden (vgl. das Wort Revolution in Französisch, Deutsch oder Englisch im Google Ngram Viewer). Foucaults Schriften sind insofern zunächst einmal diskursive Durchgangspunkte einer historischen Revolutionskonjunktur. Ihre Koordinaten sind – und das scheint für die postkoloniale Selbstverortung zu sprechen – die Revolte vom März 1968 in Tunesien, Foucault zufolge ein "Land der dritten Welt" (IV/97, 98), die chinesische Kulturrevolution 1966-1976, und die iranische Revolution 1978/79. Meine These ist allerdings, dass Foucault es insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution und mit der iranischen Revolution verpasst, einen postkolonialen Revolutionsbegriff zu entwickeln, und zwar besonders aus einem Grund: Seine Imagination einer Volkseinheit, die einen Kampf gegen den ‚inneren Feind' führt, stammt aus dem Repertoire europäischer Revolutionen, vom französischen Jakobinismus der Jahre 1792-1794 bis zum bolschewistischen Terror seit 1917/18.


Parade der Roten Garden in Beijing, ca. 1970 © Corbis/Bettmann/UPI

Diese Vorstellung bildet eine Grundlage von Foucaults Wahrnehmung der chinesischen Kulturrevolution: Zwar wendet er sich in einem Gespräch mit französischen Maoisten im Jahr 1972 gegen die Idee der Errichtung von Volkstribunalen, jedoch nur, da sie ihm als Deformation einer unmittelbaren Volksjustiz erscheinen (II/426). Seine Argumentation ist in Deutungen befangen, die in der Judikative allein ein Instrument der herrschenden Klasse sehen, wenn er ausführt, die "Vorstellung, es könne Leute geben, die gegenüber den beiden Parteien neutral sind", erscheine gegenüber "der eigentlichen Idee einer Volksjustiz" als "sehr fremd" (II/432). Denn, so Foucault weiter, "im Falle einer Volksjustiz hast du keine drei Elemente, sondern nur die Massen und ihre Feinde" (Ebd.). Diese Wendung gegen die formell neutrale Instanz einer relativ autonomen Judikative – die Foucault offensichtlich auf die Strafgerichtsbarkeit reduziert (II/438) – verbindet sich also mit einer homogenisierenden Konzeption der Massen. Die Rede von den "Gegenmaßnahmen" der "Massen" gegen ihre "Feinde", "die von der Bestrafung bis zur Umerziehung reichen, ohne den Weg über die Form des Gerichts zu nehmen" (II/452), führt in eine fragwürdige Affirmation der Aktionen einer scheinbar als einheitlich gedachten Gemeinschaft jenseits jeder Form von Judikative und Gewaltenteilung.

Foucaults Annahme, dass "die Revolution nur durch die radikale Eliminierung des Justizapparats erfolgen" könne (II/440), scheint nun zunächst aus einer auch in Überwachen und Strafen[3] zu findenden These zu folgen: Der durchaus richtigen Beobachtung, dass die herrschende Justiz historisch und aktuell einen Gegensatz zwischen kriminalisierten und nicht-kriminalisierten subalternen Subjekten produziert und somit der "Aufstandsbekämpfung" dient (II/438, vgl. 454 u. bes. 662ff.). Daraus folgt allerdings nicht notwendig der Schluss, den Foucault zieht. Denn warum sollte es keine Gerichtsbarkeit innerhalb einer revolutionierten Form der Gewaltenteilung geben können, welche Formen der Herrschaft wie den Kapitalismus überwunden hat? Zudem zeigt sich in Foucaults Ausführungen zum Iran, dass die Imagination einer revolutionären Volkseinheit noch weitaus problematischere Implikationen hat.



Iranische Revolution, 1979 (credits to: CNN)


Denn die Ereignisse der Jahre 1978/79 sind für Foucault "revolutionär (…), weil es sich um die Erhebung einer ganzen Nation (…) handelt" (III/931, Hervorh. F.K.). "Zu den charakteristischen Merkmalen dieses revolutionären Ereignisses gehört auch die Tatsache, dass es einen absolut gemeinschaftlichen Willen aufscheinen lässt (…). Das ist großartig und kommt nicht alle Tage vor" (III/933f., Hervorh. F.K.). Diese Ideologie einer einheitlichen Gemeinschaft und ihrer volontée générale lässt Foucault scheinbar blind werden für die politischen Differenzen innerhalb der revolutionären Bewegung, die historisch ‚gelöst' wurden, indem die islamistische Fraktion ihre Gegner_innen brutal ausschaltete. Dabei ist Foucault der islamistische Antisemitismus und Rassismus offensichtlich bewusst (III/941f., vgl. auch 952); er ist jedoch der Ansicht, der "ausgeprägte gemeinschaftliche(…) Wille" der revolutionären Kräfte "erforder(e) den Rückgriff auf Traditionen und Institutionen, die einen Gutteil Chauvinismus, Nationalismus und Ausschluss bergen und den Einzelnen wirklich mitzureißen vermögen" (III/943). Darunter fällt für ihn auch Khomeinis Interpretation des schiitischen Islam (III/950, 952).

So sehr Foucault von der damit verbundenen Idee fasziniert gewesen sein mag, "in das politische Leben eine spirituelle Dimension einzuführen" (III/692) und so sehr er eine Volkseinheit gegen die Gewalt des Schah-Regimes für notwendig hielt: Letztlich bleibt er in der Frage der iranischen und der chinesischen Revolution in einer wie auch immer widersprüchlichen[4] Weise der europäischen Tradition eines einheitlichen "Volkes" verhaftet, das Krieg gegen die ‚inneren Feinde' führt und damit auch die Konflikte in den eigenen Reihen externalisiert. Foucault selbst weist im Gespräch mit den Maoisten 1972 auf diese historische Figur hin, die bereits die jakobinische terreur seit den Septembermorden 1792 auszeichnet (II/425). Und er selbst betont im o.g. Gespräch zum Iran, dass sich dieser innere Krieg häufig mit Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus – alles in Europa entstandene Ideologien – verbindet.


Foucault und Sartre an einer Demonstration für Immigranten, Paris 1971
Ist damit die Revolution als Bezugspunkt bei Foucault diskreditiert? Ende der Siebziger Jahre verlor das Revolutionsnarrativ allgemein an Anziehungskraft. Foucault geht jedoch nicht von einem Ende der Revolution aus; so schreibt er am Vorabend einer Phase linker Niederlagen gegen Kapitalismus und Diktaturen 1978: "Erleben wir am Ende dieses 20. Jahrhunderts so etwas wie das Ende des Zeitalters der Revolution? Diese Gattung der Prophetie des Todesurteils über die Revolution scheint mir ein wenig lächerlich" (III/690). In kompletten Widerspruch zu seinen Aussagen zum Iran im gleichen Jahr behauptet Foucault nun aber, ein bestimmtes Verständnis der Revolution sei an sein Ende gekommen – genau jenes Verständnis, das in China und im Iran nicht ohne affirmative Begleitung seiner selbst noch einmal als schreckliche Farce inszeniert wurde und dem zufolge "Revolution einen (…) einheitlichen Kampf einer Nation, eines ganzen Volkes (…) bedeutete" (III/689f.).

Das bedeutet nicht, dass Foucault jede Form der politischen Erhebung verwirft: "Die(…) verglichen mit dem Primat (…) der Revolution dezentrierten Kämpfe sind indes keine situativen Phänomene (…), sondern (…) eine der (…) wesentlichen Strukturen unserer Gesellschaft" (Ebd.). Allein eine manichäische und implizit eurozentrische Aufladung der Revolution hat in diesem Zusammenhang keinen Raum. Stattdessen versucht Foucault an dieser und anderen Stellen, Erhebungen und Revolutionen neu zu denken. So kritisiert er im Zuge der auf 1968 folgenden sozialen Bewegungen dogmatische Formen des Marxismus und fordert eine "Infragestellung der Identität Marxismus = revolutionärer Prozess" (II/935). Ein wesentlicher Punkt ist dabei die "Belegstelle-bei-Marx-Manie" (II/908) – heutige Foucaultianer_innen (und Luhmanianer_innen, etc.) sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Foucault verwirft zudem kolonialistische, auf das metropolitane Proletariat, den Staatsapparat und die Form der Partei fixierte Momente des Marxismus (II/910, 937f., vgl. auch III/367f.).[5]

Die neuen linken Bewegungen, denen Foucault in den Jahren 1979-1984 verbunden blieb, wandten sich zumindest teilweise von den Ideologemen der Volkseinheit und des Kampfes gegen den ‚inneren Feind' sowie von Staats- und Parteiapparaten ab. Das Subjekt solcher Erhebungen stellte, wie Foucault 1979 schreibt, nicht mehr die einheitliche Gemeinschaft des Volkes dar, sondern die politische Subjektivität aller beliebigen Menschen. Deren Stimmen als politische zu hören ist seitdem die Aufgabe der progressiven Intellektuellen[6]: "Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache. Auf diesem Wege gelangt die Subjektivität (nicht der großen Männer, sondern jedes beliebigen Menschen) in die Geschichte und haucht ihr Leben ein (…). Es genügt, dass sie da sind und alles sie zum Schweigen zu bringen versucht, damit es sinnvoll ist, sie anzuhören und verstehen zu wollen, was sie sagen" (III/991).

Der an die Bewegungen seit 1968 und an Theoretiker_innen wie Foucault anknüpfenden ‚neuen Linken' bereiteten damit das Feld für jene heutigen Kämpfe von Chiapas 1994 bis Tunesien 2010/11, die den Marxismus als Leitideologie überwanden. Den Kolonialismus konnte jedoch auch die neue Linke zunächst nicht hinter sich lassen. Bestenfalls kann es als Ausdruck erster hilfloser Gehversuche ‚westlicher' Intellektueller im postkolonialen Kontext gelten, wenn sie die Revolutionen in China und im Iran zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nahmen, um dabei wie Foucault ihr Nicht-Wissen über die dortigen Zustände zu offenbaren (vgl. noch 1976 III/95) oder Orientalismen über die Iraner_innen zum Besten zu geben: "Sie gehen mit der Wahrheit anders um als wir (…). (…) wenn man etwas sagt, das auf der Ebene der Tatsachen nicht zutrifft, aber auf einen anderen, tieferen Sinn verweist, der sich mit exakten Beobachtungsbegriffen nicht ausdrücken lässt…" (III/942). Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass gerade autoritäre Bewegungen wie der Maoismus und der Islamismus nicht nur bei Foucault im Fokus des Interesse standen, boten sie doch Anknüpfungspunkte für orientalistische Projektionen. Es wäre ja auch denkbar gewesen, in erster Linie die Revolutionen in Angola, Portugal, Laos oder Nicaragua in den Blick zu nehmen.

Die Erhebung von 1968 fand für Foucault – und dies wäre eine eigene Untersuchung wert – zunächst nicht in Europa, sondern in Tunesien statt. 2010/11 erschien wieder eine tunesische Erhebung auf der globalen Bühne. Die Geschichte der Revolution ereignet sich gegenwärtig aufs Neue und muss aufs Neue erzählt werden. Wird sie sich als Farce zweiten Grades wiederholen oder die Früchte ernten, die bei Foucault und anderen wie zaghaft und widersprüchlich auch immer gelegt wurden? Wir gedenken seiner Verirrungen angesichts dieser Möglichkeit frei nach Brecht mit Nachsicht.



[1] Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, Band IV, S. 847 (i.F.: IV/847).
[2] Überblick: Sebastian Conrad: "Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique". In: The American Historical Review (2012) 117 (4): pp. 999-1027 (doi: 10.1093/ahr/117.4.999, 19.07. 2013).
[3] Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 351-357.
[4] Widersprüchlich, weil es natürlich andere Aussagen Foucaults gibt: Etwa seine Genealogie des Kampfes gegen den inneren Feind (In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 310f.) oder die Kritik der antisemitischen Ausschreitungen in Tunis 1967 (vgl. Didier Eribon: Michel Foucault. Biographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 273f.). Dagegen fördert Eribons umfassende Auswertung von Foucaults Schriften zur iranischen Revolution (Ebd., S. 402-418) keine grundlegenden Fakten zutage, die meiner Interpretation widersprechen.
[5] In diese Linie gehört wohl auch Foucaults im Zusammenhang seiner Analyse des (neo)liberalen Regierens stehender Plan, ein Buch über das sozialistische Regieren zu verfassen, das sich gegen die Totalitarismustheorie wenden und vielmehr die "Partei-Funktion" in den Blick nehmen sollte (Ebd., S. 441f.).
[6] Foucaults Rhetorik erinnert hier an die spätere politische Theorie Jacques Rancières in Büchern wie Das Unvernehmen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

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