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Zur Ökologie der Moral bei Bruno Latour

1. DIE KRISE ALS AUSGANGSPUNKT
2. UNTERWEGS ZU EINER ÖKOLOGIE DER MORAL
3. ENDLICH WOHNEN LERNEN



1. DIE KRISE ALS AUSGANGSPUNKT

Wer von der gegenwärtigen ökologischen Krise spricht, verweist unweigerlich auf eine Bedrohung des Wohnens.[1] Diese steht hier nicht umsonst im doppelten Genitiv angeschrieben: Einerseits ist es das Wohnen, von welchem diese Bedrohung ausgeht oder besser die Art des Wohnens, andererseits aber befindet sich das Wohnen selbst in Gefahr. Da Krisen immer auch Anlass zur Umkehr sind, weil sie die Zuspitzung von Wegen anzeigen, die in Unwegsamkeiten führen, fordern sie regelmäßig eine "zeitspezifische" Veränderung der menschlichen "Ausdrucksmöglichkeiten".[2] Zu letzteren gehört unzweifelhaft auch die Dimension moralischen Handelns. Wie die Geschichte der Philosophie zeigt, gelten Moral und Ethik jedoch nicht als geschichtsimmanente Größen, sondern als handlungsleitende Instanzen, die aufgrund ihres metaphysischen Wesens als unwandelbar betrachtet werden sollten.[3] Wer die Moral historisiert, sie vom geschichtlichen Einzelfall abhängig macht, sorgt, einem beinah einstimmigen Urteil nach, für nicht anderes als die Aufhebung der Bedingungen der Möglichkeit von Moralität überhaupt. Auch in der Krise muss die Moral unangetastet, das Gute es selbst bleiben. Die Moralphilosophie weigert sich in diesem Sinne der Krise gerecht zu werden, weil sie an dem Fideismus festhält, Moralität könne außerhalb des Mediums des Allgemeinen nicht existieren. Der Krise gerecht werden, hieße hernach die Moral verraten, vor allem insofern es bedeutete, das Leben selbst zum "höchsten Gut" zu erheben.[4] Ein wiederkehrendes, weil grundlegendes Muster dieser moralphilosophischen Spielart, deren prominentestes Beispiel gewiss die Gesinnungsethik Kants darstellt, manifestiert sich in der Behauptung der Unableitbarkeit jedweden Sollens vom Sein. Wenn "vom Sein kein Weg zum Sollen führt", muss das Sollen nicht nur außerhalb der Geschichte aufgefunden werden, sondern auch außerhalb des Seins.[5]

Genau diese A-Historizität (und A-Ontologizität) der Moral hat Bruno Latour zu hintergehen versucht. Erklärlich wird dieser Versuch allerdings erst im Hinblick auf die ökologische Krise unserer Gegenwart. Dieselbe kann, wie Latour am Ende von Existenzweisen aufweist, als eine "Rückkehr der engen Grenzen" begriffen werden, die nach dem "Tod Gottes'" ihre Funktion als Bezugspunkte menschlichen Handelns eingebüßt hatten.[6] Die Neuorientierung der Moral ist folglich an die Erkenntnis der Fragilität und Endlichkeit menschlichen Lebens auf der Erde gebunden, aber auch an den Verlust einer metaphysischen Begründungsdimension. Damit wird klar, was die Wörter Moral und Ethik schon von sich aus aussprechen: Es handelt sich bei ihnen um Kristallisationen von Gewohnheiten in Normen und Konventionen, die durchaus historisch problematisiert werden können. Zur Norm geronnene Gewohnheiten sind aber vor allem eines: Weisen des Wohnens.[7] Für Latour führt folglich nur vom Sein ein Weg zum Sollen, weil das Sollen über die Weisen des Wohnens verfügt. Keine metaphysische Welt, keine Unendlichkeit oder Ewigkeit kann die Werte für Handlungsweisen bereitstellen, die sich auf ein Wohnen beziehen, das nie zuvor dagewesenen Bedrohungen ausgesetzt ist, welche darüber hinaus eine Endlichkeit desselben offenbar werden lassen, deren Sichtbarkeit ebenso präzedenzlos ist.


2. UNTERWEGS ZU EINER ÖKOLOGIE DER MORAL

Aus der angeführten historischen Situation ergeben sich gänzlich neue Gewohnheiten – Gewohnheiten, die neue Verantwortungen gegenüber Entitäten mit sich führen, die bisher nur als Mittel betrachtet wurden in einem Sein, das selbst nicht wertfähig und vom Einzugsbereich des Moralischen suspendiert war. Ich werde im Folgenden auf vier strukturelle Verschiebungen hinweisen, die in dieser Neubegründung des Moralischen im Sein wurzeln und auf eine Transformation des menschlichen Wohnens abzielen:

  1. Vom "Sein-als-Sein" zum "Sein-als-Anderes": Das Sein bildet für Latour nicht länger eine unifizierende Instanz aller Seienden. Die Seienden bilden vielmehr Modi, und dadurch ein Sein, das von sich abweicht, in einer ihm essentiellen Modifikation. Wenn sich die Moralität auf das Sein beziehen können muss, um auf die Krise zu antworten, darf dasselbe nicht länger als eine letzthin unzugängliche, unveränderliche oder göttliche Substanz aufgefasst werden. Es gibt nicht mehr nur "mehrere Arten vom Sein zu sprechen", die diesem alle entraten, während das Sein selbst stets mit sich identisch bleibt, sondern "mehrere Modi des Seins".[8] Das Sein selbst ist nicht mehr verborgen durch die diskursive Repräsentation, sondern diese eine spezifische Modifizierung von Seienden. Das Sein-als-anderes ist zugänglich in seiner vielfältigen Differenzierung und es zeigt die Abhängigkeit der jeweiligen Seienden von einander, weil diese durcheinander hindurchgehen müssen, um im Sein zu beharren.[9] Auf diese Weise löst Latour nicht nur die Ontologie von der Theologie, sondern auch die Moral von der Metaphysik.
  1. Daraus folgt auch, dass die Moral aus der Heteronomie abgeleitet werden muss, nicht aus der Autonomie. Während noch die aufklärerische Moralphilosophie die Möglichkeit moralischen Handelns an der Willensfreiheit und Autonomie des Subjekts festmacht, ist diese Möglichkeit für Latour wesentlich an die Heteronomie gebunden. Offenkundig zeigt die ökologische Krise, die der Term "Anthropozän" als Vernichtung der Menschheit durch die von ihr selbst herbeigeführte Zerstörung der eigenen Überlebensbedingung ausweist, auf eine fundamentale Abhängigkeit.[10] Diese Abhängigkeit ist die Abhängigkeit des Menschen von seiner "Umwelt", von der Modifikation seines Seins durch andere Wesen. Da nur diese anderen Wesen mein Leben ermöglichen, muss sich mein moralisches Handeln durchweg auf sie beziehen. Sie begrenzen den Möglichkeitsraum meines Handelns und verleihen ihm erst durch diese Begrenzung seine potentielle Moralität.
  1. Wer kann als moralisches Wesen gelten? Für Latour haben alle Wesen an der Moralität teil. Dies hat hauptsächlich zwei Gründe: Erstens ist das Sein selbst moralisch verfasst, schon im Sinne der Selbsterhaltung oder Subsistenz der Wesen. Alle Seinsmodi, aus welchen sich das Sein-als-anderes zusammensetzt, haben Gelingens- und Misslingensbedingungen, die ihre Instauration betreffen, was auch bedeutet, dass keinem Wesen seine Existenz formal garantiert werden kann.[11] Ihr Sein hat also einen intrinsischen Wert, insoweit andere Seiende von diesem abhängen und es diesen zur Subsistenz verhilft. "Jede Instauration impliziert ein ‚Werturteil […] Kein einziger Modus, der nicht fähig wäre, das Wahre vom Falschen, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden, auf seine Weise."[12] Zweitens aber kann von jedem Wesen eine Artikulation, ein "Ruf" oder "Appell" ausgehen, der den Skrupel der moralischen Wesen aufruft, die diese als Mittel ihrer Handlungen ausbeuten.[13] Hier erscheint eine gewisse Asymmetrie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren in Latours Moralbegriff, da die thematisierte Anrufung nur in menschlichen Wesen den Skrupel herbeiführt, der für Latour moralisches Handeln bedingt und die Distribution von Zwecken und Mitteln ermöglicht: "Dieser Baum, dieser Fisch, dieser Wald, diese Pflanze dieses Insekt, sind sie mein Zweck, oder soll ich für sie wieder Mittel werden?"[14] Während also alle Seienden, allein schon ob ihres Seins, an der Moralität partizipieren, sind sie doch von dieser Dimension einer aktiven Zweck- und Mittelbestimmung ausgeschlossen, deren Gegenstand sie letztlich sind. Ihre Gegenständlichkeit erlaubt es ihnen andererseits, Mittel oder Zwecke zu werden und ermöglicht so auch erst die menschliche Moralität als ein Verfahren mit den Dingen und Wesen der Welt, das auch der Umstimmung der Gewohnheit fähig ist. Wenngleich also "die Moral nur eine Eigenschaft der Welt selbst sein" kann, ist andererseits die Welt in ihrer Existenz von einem Wesen abhängig, das ihren Ruf vernimmt.[15] Dieses Wesen ist der Mensch.
  1. Daher kann Latour auch nicht einfach ein Set an Werten postulieren, das allgemeine Verbindlichkeit beansprucht. Die Moral muss so nah wie möglich an der singulären Erfahrung sein, weil nur vom Sein abgeleitet werden kann, wenn dieses nicht von vornherein einer verbindlichen Ignoranz preisgegeben ist. Selbst ihr Rahmenwerk bezeichnet bei Latour Allgemeinheit nur in dem Sinne, wie in ihm jene Elemente bestimmt werden, ohne die auch eine Singularisierung der moralischen Überlegung undenkbar wäre. Moralität wird hier also zu einer Sache der Sensibilität, und moralisches Verhalten ist vor allem solches, das immer wieder die eigene Position infrage stellt und sich für einen Neuanfang bereithält. Für Latour bestünde ein bloßer Moralismus gerade darin, sich durch die Setzung von Werten ein für alle Mal aus der Affäre zu ziehen, ohne die faktische Lage zum Ausgangspunkt zu nehmen.[16] Auf die Gewohnheit zurückgewendet, in der sich das Wohnen als moralisches niederschlägt, bedeutete ein Wohnen nach Grundsatz fast schon, nicht auf der Erde zu wohnen, sondern in einem virtuellen Gebäude der Metaphysik, dessen Architektur sich für die Anmessung ihres moralischen Raumentwurfs auf alles beziehen kann, nur nicht auf das Sein, auf welchem sie dennoch notwendig gründet.


3. ENDLICH WOHNEN LERNEN

Latour geht es folglich darum, die Bodenlosigkeit der bisherigen Moralphilosophie zu beenden, um sie als eine Antwort auf Bedrohung unseres Wohnens erfahrbar zu machen. Ganz einfach weil das Wohnen als metaphysisches Wohnen die Erde und jene, die auf ihr Wohnen, gefährdet, muss es fortan erdhaft werden.[17] Die Moral von der Metaphysik ins Physische zu versetzen, heißt, ihr einen Grund zu geben, der sie gleichzeitig in die Zeit stellt, sie verortet. Dieses Sein als zugänglich, vielfältig und von sich selbst different zu zeichnen, heißt zu berücksichtigen, dass kein Gott und kein Unwandelbares zur Wandlung unseres Wohnens führt, wenn es "letztlich" um "die Wohnstätte, den oikos" als Schauplatz des Moralischen geht.[18] Nur, wenn sich die Moral aus der Heteronomie herleitet, wird mein Wohnen sich vor dem Hintergrund einer Abhängigkeit situieren, deren Negation, als Bedingung der Autonomie, die Berücksichtigung von Seienden ausschließen würde, die in meinem Handeln immer schon gegenwärtig sind, ob als Bedingung oder Gegenstand. Dies betrifft ganz offenkundig schon die Modalität des in der Moralität manifestierten Wohnens. Das Wohnen des Menschen ist ein abhängiges, nur durch die Anerkennung dieser Abhängigkeit bewegen wir uns nicht unversehens wieder in den Horizont einer metaphysischen Ökologie des Moralischen. Diese Abhängigkeit aber verleiht für Latour allen Wesen eine Werthaftigkeit, die mich dazu auffordert, immer wieder von Neuem offen zu sein für die moralische Anrufung anderer, da nur von Menschen her die Bedrohung der Seienden in ein verändertes Handeln übersetzt werden kann, das sich auf diese bezieht. Es bleibt daher für Latour unfraglich, dass das Wohnen des Menschen ein stetiges Lernen erfordert. Dieses Lernen wiederum erfordert eine stetige Befragung der eigenen Handlungen, zur Sicherstellung einer bleibenden Wohnstatt.[19]

Die Wohnungsnot, die Heimat- und Erdlosigkeit scheint im Anthropozän stärker denn je um sich zu greifen, und man sieht nicht ein, wie gerade eine Rückkehr zu Blut und Boden hier einen neuen Wohnraum verschaffen sollte, wo doch die Existierenden weniger denn je zu verpflanzen sind, wo sie doch in einem Raum leben, dem die Grenzen und Entfernungen bald fremd geworden sein werden. Die Bedingtheit des Räumlichen durch seine technische Instauration besagt dies, nicht die Prophetie. Erstere wiederum wird niemals außerhalb der Modalitäten stehen, die unseren Bezug zum Sein einrichten. Wer die Moral aufgeben zu müssen glaubt, weil sie sich das Leben und das Sein selbst zum höchsten Gut zu erheben genötigt sieht, der hat, weil er die Moralität jenseits jeder historisch-empirischen Situation ansetzt, die Erde niemals vollständig bewohnt. Die Ausrichtung seiner Zwecke musste schlechterdings alles Erdhafte weithin entwerten. Könnte es also sein, dass in diesem Sinne die Moral erst von neuem anfängt, zu existieren? Könnte moralisch zu existieren also heißen: Endlich wohnen lernen? In diese Richtung wenigstens weisen Latours Überlegungen zur Begründung einer Ökologie der Moral.



[1] Schon allein die Etymologie des Wortes, das griechische oikos, macht diese Behauptung plausibel, weil es auf einen Haushalt verweist, dem eine bestimmte Logizität zugesprochen wird, welche wiederum als eine Weise des Wohnens und Haushaltens begriffen werden kann.
[2] Vgl. Reinhardt Koselleck: Krise, in: Otto Brunner et al. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 3, Stuttgart: Klett-Cotta 1982, 627.
[3] Vgl. Hannah Arendt (1965), Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, übers. v. Ursula Ludz, München: Piper 2016, 11.
[4] Vgl. ebd. 12-13.
[5] Eine ausführliche Diskussion der Begründungsproblematik der Moral und ihrer (notwendigen) Beziehung zur Metaphysik findet sich bei Hans Jonas: Vgl. Hans Jonas (1979), Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, 90-102, hier 93.
[6] Vgl. Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, übers. v. Gustav Roßler, Berlin: Suhrkamp 2014, 652-653.
[7] Folgendes Zitat Latours dürfte das Verhältnis von Wohnen, Gewohnheit und Ethik veranschaulichen, weil in ihm die Gewohnheit als Voraussetzung des Wohnens verstanden wird, während dieses wiederum die Möglichkeit des Ethischen begründet, auf dessen spezifische Konzeption im Weiteren ausführlicher eingegangen werden soll: "Wir können von der Gewohnheit sagen, daß sie die Welt in der Tat bewohnbar macht das heißt geeignet für ein Ethos, für eine Ethologie." Ebd. 377.
[8] Vgl. ebd. 240.
[9] Ebd.
[10] Vgl. ebd. 612-615.
[11] Vgl. ebd. 237-238.
[12] Ebd. 613.
[13] Vgl. ebd. 609.
[14] Ebd. 612.
[15] Vgl. ebd. 615.
[16] Vgl. Émilie Hache und Bruno Latour, Morale ou moralisme? Un exercice de sensibilisation, in: Raisons politiques No. 34, Paris: Press de Sciences Po, 2009, 143-166.
[17] Vgl. ebd. 637.
[18] Vgl. ebd. 625.
[19] Eine ähnliche Konzeption der Ethik des Wohnens kann schon bei Heidegger gefunden werden. Vgl. Martin Heidegger (1951), Bauen Wohnen Denken, in: Ders. Vorträge und Aufsätze, Band 7 Gesamtausgabe, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2000, 146-164.

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