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Ein Riss im dialektischen Universum: Pierre Boulez und Foucault


Pierre Boulez bei einer Probe mit dem Chicago Symphony Orchestra, 1969.

Am 5. Januar 2016 verstarb der 1925 geborene französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez in Baden-Baden. Viel wurde in den vergangenen Tagen über sein Werk und Leben berichtet. Für großes Aufsehen hatte er in Deutschland zum ersten Mal 1976 gesorgt, als er zusammen mit dem Opern- und Filmregisseur Patrice Chéreau (1944–2013) in Bayreuth den Jahrhundert-Ring inszenierte. Damals hagelte es aus den Rängen der konservativen Wagner-Gemeinde viel Kritik, es kam zu Protesten und Unterschriftenaktionen gegen das französische Duo sowie einer Meuterei des Orchesters. Es gab aber auch zahlreiche Bewunderer dieser kompromisslosen Neuinterpretation, und unter ihnen war Michel Foucault, der von Boulez persönlich zu den Festspielen eingeladen worden war. In einem Gespräch, das im Juli 1978 in der japanischen Zeitschrift Sekai veröffentlicht wurde, erinnert sich Foucault: "Boulez kenne ich schon lange, weil wir gleich alt sind und ich ihn kennen gelernt habe, als wir beide zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig waren. […] Es ist jedoch bewundernswert, dass Boulez, ein großer Musiker und großer Dirigent, wenn es gegenwärtig überhaupt einen gibt, ohne weiteres die Aufführung des Stücks akzeptiert hat." Im selben Atemzug stellt er Wagner neben Nietzsche an den Beginn jener "Anti-Hegelianer", in deren Tradition er sich selbst immer gesehen hat, und bemerkt dazu vielleicht etwas leichtfertig: Nietzsches "Denken kann nicht einfach der Rechten zugeordnet werden. Das sehen wir gegenwärtig. Ebenso wenig das Denken Wagners."[1]

Im Februar 1978 hält Foucault zusammen mit Gilles Deleuze und Roland Barthes ein gemeinsames Seminar mit Boulez am Institut de Recherche et Coordination Acoustique-Musique (IRCAM) und veröffentlicht 1982 einen Text über dessen Werk mit dem Titel "Pierre Boulez, der durchstoßene Schirm", in dem er erklärt, mit seiner Musik sei es möglich, "das 20. Jahrhundert unter einem gar nicht vertrauten Blickwinkel zu betrachten: dem eines langen Kampfes um das 'Formale'." Boulez' kompositorische Arbeit mit formalen Strukturen markiert für Foucault an dieser Stelle auch eine besondere Form des Denkens als theoretischer Praxis der Subversion: "Welche Rolle spielt nun das Denken in dem, was man tut, wenn es weder bloßes Know-how noch reine Theorie sein soll? Boulez hat es gezeigt. Es soll die Kraft verleihen, die Regeln in dem Akt, der sie zur Anwendung bringt, zu brechen."[2] 1983 veröffentlichen Foucault und Boulez schließlich ein längeres Gespräch über zeitgenössische Musik, ihre Beziehungen zu neuen Technologien und dem Publikum in der Zeitschrift des Centre Beaubourg. In diesem Gespräch wird auch deutlich, dass Foucault der populären Rockmusik seiner Zeit nur wenig abgewinnen konnte.[3]

Kennengelernt haben sich beide – Foucault spricht davon in seiner Erinnerung an Bayreuth – bereits viele Jahre zuvor in dem Kulturzentrum der Abtei von Royaumont im Juli 1951. Diesen Ort hatte Louis Althusser (1918–1990), der damals Foucaults Lehrer an der École normale war, ausgesucht, um seine Zöglinge auf die mündliche Abschlussprüfung vorzubereiten. Bei einem Musikfestival, das zu dieser Zeit dort stattfand, kam es schließlich zum ersten Treffen zwischen Foucault und dem jungen Komponisten, der die Althusser-Schüler durch eine spontane Darbietung einer Mozart-Sonate in kleinerem Kreis begeisterte. Zu diesem Treffen und der sich daran anschließenden Beziehung zwischen Foucault und Boulez gibt es zwei Deutungen: Die eine stammt von Jean-Paul Aron (1925–1988), der bei dieser Begegnung selbst dabei war und ihr in seinem Buch Les Modernes "weitreichende Konsequenzen für Foucaults Lebensweg" zuschrieb; die andere stammt von Foucaults Biograph Didier Eribon, der sie für vollkommen überbewertet hält und beschreibt, dass beide "nicht vor Ende der siebziger Jahre Freundschaft geschlossen haben, das heißt beinahe dreißig Jahre später" und es "sich nie um eine enge Beziehung gehandelt" hat. Auch dass Foucault 1975 dazu beitrug, Boulez auf den Lehrstuhl für Erfindung, Technik und die Sprache der Musik des Collège de France zu berufen, ändert nichts an Eribons Einschätzung.[4]

Und doch hat Foucault selbst Boulez einmal einen wichtigen Platz in seiner intellektuellen Entwicklung zugeschrieben. In dem Interview "Wer sind Sie, Professor Foucault?" von 1967 antwortet Foucault auf die Frage hin, wer ihn neben Nietzsche am meisten bei seiner Abkehr vom Hegelianismus beeinflusst habe: "Wenn ich mich recht erinnere, verdanke ich meinen ersten 'Kulturschock' den französischen Vertretern der seriellen und der Zwölftonmusik wie Boulez und Barraqué, mit denen ich freundschaftlich verbunden war. Durch sie entstand für mich der erste 'Riss' in dem dialektischen Universum, in dem ich bis dahin gelebt hatte."[5] Doch was war es, das Foucault in den Stücken Boulez' gehört hatte, das ihn schließlich aus dem hegelianischen Universum ausbrechen ließ und ihm ein Denken offenbarte, das "weder bloßes Know-how noch reine Theorie sein sollte"?[6]


Skizze des Aufführungs-Dispositivs von Pierre Boulez' Komposition "Répons", 1981.

Ist die Verbindung zwischen Foucault und Boulez vielleicht doch folgenreicher als Eribon es konstatiert? Eine mögliche Interpretation findet sich in dem Gespräch der beiden von 1983, wo Foucault eine für ihn konstitutive Verbindung zwischen zeitgenössischer Musik und Kultur zur Sprache bringt: "Zum einen ist die Musik viel empfänglicher für die technologischen Transformationen, viel enger mit ihnen verbunden gewesen als die Mehrzahl der anderen Künste (mit Ausnahme natürlich des Kinos)."[7] Gerade der Experimentator Boulez beschäftigte sich zu dieser Zeit intensiv mit elektroakustischen Technologien und Architekturen des Konzerts, um so die tradierte Beziehung zwischen Musikern und Publikum neu auszurichten. So wählte er beispielsweise für seine Komposition Répons, die am 18. Oktober 1981 bei dem Musikfestival Donaueschingen aufgeführt wurde, eine komplexe Aufführungsstruktur, die Musiker, Publikum, Instrumente und Lautsprecher gleichermaßen einschloss. Wäre es nicht denkbar, dass Foucault in diesen experimentellen Versuchsanordnungen eine künstlerische Umsetzung – ja, vielleicht gar ein Labor – der von ihm untersuchten Dispositive erkannte? Und markiert die Szenografie von Répons nicht sehr explizit jene "entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen" beziehungsweise "das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann"? Auch zwischen Boulez' Elementen – dem Zuschauerraum, den Musikern, ihren Instrumenten sowie den Lautsprechern und dem Konzertsaal – "gibt es gleichsam ein Spiel, gibt es Positionswechsel und Veränderungen in den Funktionen, die ebenfalls sehr unterschiedlich sein können."[8]

Die traurige Nachricht vom Tod des großen französischen Komponisten und Dirigenten sollte zum Anlass genommen werden, dieser und anderer Spuren erneut zu folgen und vielleicht selbst einmal in die alten Aufnahmen hineinzuhören.



[1] Michel Foucault: Die Bühne der Philosophie, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III, 1976–1979, Frankfurt/M: Suhrkamp 2003, S. 718–747, hier: S. 743f. (Orig.: "Tetsugako no burai", in: Sekai (Juli 1978), S. 312–332).
[2] Michel Foucault: Pierre Boulez, der durchstoßene Schirm, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, 1980–1988, Frankfurt/M: Suhrkamp 2005, S. 265–269, hier: S. 266 und 269 (Orig.: "Pierre Boulez, l'écran traversé", in: M. Colin u. J.-P. Markovits (Hg.): Dix ans et après. Album souvenir du festival d'automne, Paris: Messidor 1982, S. 232–236).
[3] Michel Foucault und Pierre Boulez: Die zeitgenössische Musik und das Publikum, in: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, 1980–1988, Frankfurt/M: Suhrkamp 2005, S. 594–604 (Orig.: "La musique contemporaine et le public", in: C.N.A.C Magazine 15 (Mai-Juni 1983), S. 10–12).
[4] Für den gesamten Absatz sowie die Zitate siehe: Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt/M: Suhrkamp 1991, S. 109–111. Siehe außerdem: Jean-Paul Aron: Les Modernes, Paris: Gallimard 1984, S. 64–65.
[5] Michel Foucault: Wer sind Sie, Professor Foucault?, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954–1969, Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, S. 770–793, hier: S. 785 (Orig.: "Che cos'è Lei Professor Foucault", in: La Fiera letteraria XLII.39 (28. September 1967), S. 11–15).
[6] Vgl. hierzu: Mary Roriche: Passing through the screen: Pierre Boulez and Michel Foucault, in: Journal of Literary Studies 22.3–4 (2006), 294–321.
[7] Michel Foucault und Pierre Boulez: Die zeitgenössische Musik und das Publikum, S. 594.
[8] Michel Foucault: Das Spiel des Michel Foucault, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III, 1976–1979, Frankfurt/M: Suhrkamp 2003, S. 391–429, hier: S. 392f. (Orig.: "Le jeu de Michel Foucault", in: Ornicar?, Bulletin périodique du champ freudien 10 (Juli 1977), S. 62–93).

  1. Comment by thobu

    Ich lese hier immer wieder gerne rein, danke für den Content. Will ich aber zitieren, dann fällt mir auf, dass der title tag in html falsch gesetzt ist. Er muss den Titel des Artikel tragen.
    Location: Falsch <title>Foucault-Blog – UZH – Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte</title>
    Richtig etwa <title>Ein Riss im dialektischen Universum: Pierre Boulez und Foucault | Foucault-Blog – UZH – Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte</title>

    Zudem wäre noch ein Thumbnail-Platzhalter was Gutes; Bilder helfen in der attention economy.

  2. Comment by foucaultblog editors
    (Author)

    Besten Dank für den Hinweis. Wir werden uns baldmöglichst darum kümmern.

  3. Comment by Prof. Dr. Martin Zenck

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen Foucault und Boulez haben Sie anscheinend meine beiden Kapitel darüber in dem 2016 veröffentlichten Buch "Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde" (Fink-Verlag, Paderborn) übersehen. Dort finden Sie folgende zwei Kapitel über die fragliche Beziehung: IV, 3 "Michel Foucault und das neue Raum-Konzept der 'Heterotopie' (S. 689-711) und "4. Rekonstruktion eines fiktiven Dialogs zwischen Foucault und Boulez" (S. 711-716).

    herzlich Ihr Martin Zenck

  4. Comment by foucaultblog
    (Author)

    Vielen Dank für den Kommentar, Herr Zenck. Das vermeintliche Übersehen rührt wohl daher, dass unser Blog-Post ein gutes halbes Jahr vor ihrem Buch erschienen ist. Wir freuen uns aber über den nachträglichen Hinweis auf diese einschlägige Publikation zum Thema!

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