Ein echter Bauer – als echter Dichter?
Versuch über einen Helden der Aufklärung
Simon Ganahl
April 29, 2014 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.38 editorial review CC BY 4.0 |
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Keywords: enlightenment | ethos | literature | media
Der Essay setzt sich mit dem Schriftsteller Franz Michael Felder auseinander, der von 1839 bis 1869 als Bauer im Bregenzerwald in Vorarlberg lebte. Dem zeitgenössischen Bild Felders als eines Helden der Aufklärung, der sich durch fleißige Lektüre aus seiner Unmündigkeit befreite, wird das Foucault'sche Konzept eines aufklärerischen Ethos entgegengestellt, wie es sich in Felders künstlerisch-widerständigem Lebensstil ausdrückt. Der Text erscheint im Begleitbuch der Ausstellung "Ich, Felder – Dichter und Rebell", die von 28. Juni bis 16. November 2014 im vorarlberg museum in Bregenz gezeigt wird.[*]
Nach einem langen Tag im Holz, auf dem Feld, im Stall lässt sich der schmächtige Mann auf die Eckbank fallen, nimmt zwei Löffel aus der gusseisernen Pfanne, schiebt sie zur Seite und breitet ein Buch auf dem Tisch aus. Die Kerze zieht er nahe an das eine, noch sehende Auge und liest Zeile für Zeile, bis der Kopf vor Müdigkeit auf die Arme sinkt. Eine Szene wie aus einem Film von Reinhold Bilgeri! In Wirklichkeit kam sie mir selbst in den Sinn, als ich eingeladen wurde, über das Bild zu schreiben, das man allgemein von Franz Michael Felder hat. "Man" entspricht in diesem Fall mir. Denn ich bin zwar Literaturwissenschaftler, aber kein Experte für den Schriftsteller, der die Aufklärung ein Jahrhundert verspätet in den Bregenzerwald brachte.
Franz Michael Felder mit seiner Frau, drei ihrer Kinder und seiner Mutter im Jahr 1866 (Quelle: http://felderverein.at)
Es ist ein mediales Klischee, das in mir aufgestiegen ist – gespeist aus Zeitungsberichten, Nachrichtensendungen, Links im Internet, die sich im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen ließen. Warum stelle ich mir Franz Michael Felder sofort als einen Helden vor? Man könnte antworten: Weil Franz Michael Felder ein Held war! Eine flüchtige Recherche bestätigt, dass erst kürzlich wieder ein Bericht über die "Koryphäe" aus dem Bregenzerwald in den Vorarlberger Nachrichten erschien, und zwar im Rahmen der Serie "Große Töchter und Söhne aus Vorarlberg".[1] (Man beachte die, politisch korrekte, Erwähnung der Heldinnen an erster Stelle.) Er sei ein "Vorkämpfer der Demokratie", ein "mutiger Sozialreformer" gewesen, "im dörflichen Umfeld jedoch als 'Büchernarr' und wissbegieriger 'Zeitungsleser' misstrauisch beäugt" worden. Es ist dieser Gegensatz, den ich hervorheben möchte. Denn die Erzählung, dass sich der Bauer durch fleißige Lektüre aus geistiger Enge befreit habe, bestätigt zugleich die Macht des Mediums, das jene Befreiung ermöglichte. Franz Michael Felder ist insofern ein Liebling der Medien, vor allem der Presse, als seine heroische Geschichte auch den Boten ins rechte Licht rückt.
Ich wiederhole längst Bekanntes, wenn ich auf den Umstand hinweise, dass die Aufklärung, wie sie etwa Immanuel Kant im 18. Jahrhundert propagierte, die Öffentlichkeit von Zeitschriften voraussetzte.[2] Gelehrte wenden sich in Aufsätzen an Leser, die entweder schon in der Lage sind, öffentlichen Gebrauch von ihrer Vernunft zu machen, oder ermutigt werden, sich selbst aufzuklären. Der Artikel "Ein Bauer als Dichter", den der deutsche Gelehrte Rudolf Hildebrand im April 1867 in der Zeitschrift Die Gartenlaube veröffentlichte, trieft vor Stolz, dass es im Fall Franz Michael Felders tatsächlich gelungen war. "Ein echter Bauer – als echter Dichter?", fragt Hildebrand rhetorisch und kündigt an, von einem "nationalen Familienereigniß" zu berichten. Was sich dort im hinteren Bregenzerwald ereignet habe, sei der "glänzendste Beweis, welche – Wunder in unserer wunderbaren Zeit geschehen können durch die Druckerpresse, den Buchhandel, die Eisenbahnen, welchen Samen sie säen können, wo der Boden dazu bereitet ist".[3] Es folgen Auszüge aus Briefen Felders, der dem Professor aus Leipzig schrieb, dass der "Zeitgeist" auch in Schoppernau immer lauter anklopfe.[4] Er habe die Presse im Knabenalter kennengelernt, als sein Vater 1848 Nachrichten über die Aufstände nach Hause brachte, und später eine Zeitschrift erhalten, um ein Stück Seife einzuwickeln.
Ich las das Blatt, bestellte es und wurde dann auf die Gartenlaube verwiesen. Diese hat mir zuerst von unseren Dichtern und Denkern erzählt. Im Jahre 57 bekam ich Lust, die damahls bei Kotta erscheinenden deutschen Classiker zu bestellen. Das Geld dazu hab ich mir mit Holzziehen, Schindelnmachen und als Ziegenfellhändler verdient. Aber je mehr ich nun lernte, desto weniger paßte ich in die Welt, in der ich leben mußte. O, viel Kraft hab ich gebraucht zum Widerstand gegen die vom Pfarrer und Vorsteher wider mich gestimmte öffentliche Meinung.[5]
Felder nahm dieser Schilderung zufolge an zwei gegensätzlichen Öffentlichkeiten teil: einer örtlichen, die von der Predigt des Pfarrers regiert wurde, und einer medialen, die Druckerpressen, Verleger und Buchhändler herstellten. Hildebrand beschreibt ihn wie einen Homunkulus – eine idealtypische Figur, die lange in aller Munde und nun wirklich vorhanden war. Abschließend fasst er zusammen, "daß in dem Leben dieses Bauern ein modernstes – Heldenleben vorliegt, an dem sich staunend zu weiden das deutsche Volk ein Anrecht hat, die gelehrte Hälfte wie die nicht gelehrte".[6] Der Artikel in der Gartenlaube präsentiert Franz Michael Felder als ein Produkt nationaler Aufklärung, das den bürgerlichen Erzeugern zur Ehre gereicht und der breiten Masse vorführt, wie man "aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit"[7] herauskommt.
Nach Felders Tod brachte die Neue Freie Presse ein Feuilleton Wilhelm von Hamms, der Hildebrand vorwarf, dem Bregenzerwälder Schriftsteller Illusionen gemacht zu haben.[8] Für den führenden Beamten des Wiener Ackerbauministeriums, der in Zeitungen auch über kulturelle Themen schrieb, war Felder kein literarisches Genie, sondern ein neugieriger Landwirt: "Man denke sich einen jungen Bauern, in dessen Kopf es ohnedies durcheinanderschwirrt von Eindrücken der Lectüre, welcher er nicht Herr und Meister geworden ist, der in dem verbreitetsten Weltblatt liest, sein Name sei in dem Grimm'schen Wörterbuch neben denjenigen Schiller's gestellt worden, oder das Bedauern, daß ein Mann, wie er, mit Milch und Mist zu thun habe, solche edle Kraft aber frei werden müsse zu höheren Aufgaben!"[9] Hamm, dem Aristokraten, scheint die bürgerliche Zuversicht fremd gewesen zu sein, dass man sich buchstäblich selbst bilden könne. Wo Hildebrand die menschgewordene Aufklärung erblickte, sah er im Wesentlichen einen Dilettanten, dem nicht systematisch gelehrt wurde, sich seines Verstandes zu bedienen. "Ich will hier so wenig als möglich anklagen", führte Hamm aus, "aber es ist wahrlich nicht gut gewesen, den jungen, gescheiten und lernbegierigen Bauer von seinem natürlichen Acker wegzuzerren in die Treibhausluft des Literatenthums."[10] So betrachtet, sind der Acker, die Milch, der Mist nicht nur an sich natürlich, sondern auch Felder angemessen, der halt ein Bauer war und bleiben sollte. Ihm fehlte in Hamms Augen die institutionelle Schulung, um seinen Vorstellungen Herr zu werden – eine geistige Erziehung, die Publizisten in Zeitschriften nicht leisten konnten.
Wer also war Franz Michael Felder? Ein Selfmademan der deutschen Literatur? Oder ein Bauer mit Flausen im Kopf? Ich weiß es nicht und zweifle, dass sich die Frage eindeutig beantworten lässt. Sein Bild – oder soll ich sagen: sein Image – muss immer wieder verhandelt werden. In Felders Fall verspricht diese Auseinandersetzung viel, weil er aus meiner Sicht jene Haltung verkörpert, die Michel Foucault als das ethos der Aufklärung bezeichnet hat.[11] Gemeint ist nicht eine historische Denkart, die bürgerlichen Idealen des 18. Jahrhunderts verpflichtet bleibt. Es geht im Gegenteil um die eigene Aktualität, um künstlerische Lebensweisen, die die etablierten Strukturen aufbrechen. Wenn Felder eine Leihbibliothek in Schoppernau, eine Käsereigenossenschaft, eine Viehversicherung gründet, wenn seine Bücher die bäuerliche Erfahrung kritisch verdichten, tritt ein im besten Sinn politischer Schriftsteller auf den Plan. Er war nicht "Seiner Zeit weit voraus", wie der Titel des oben zitierten Artikels in den Vorarlberger Nachrichten lautet, sondern eher am Puls seiner Zeit, ganz aktuell eben. Deshalb sind es die Heldentaten Felders wert, von jeder Generation neu besungen zu werden.
[*] Vgl. Simon Ganahl: "Der mediale Felder." In: Ulrike Längle u. Jürgen Thaler (Hg.): Ich, Felder. Dichter und Rebell. Lengwil 2014, S. 164–171.
[1] Gerhard Thoma: "Seiner Zeit weit voraus." In: Vorarlberger Nachrichten, 12. September 2013, S. A7.
[2] Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1999 [1962], S. 178–195.
[3] Rudolf Hildebrand: "Ein Bauer als Dichter." In: Die Gartenlaube. Nr. 15/1867, S. 234–238, hier S. 234.
[4] Ebenda, S. 236.
[5] Ebenda, S. 238.
[6] Ebenda.
[7] Immanuel Kant: "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" [1784]. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1996 (= Werkausgabe, Bd. XI), S. 53–61, hier S. 53.
[8] Vgl. dazu Jürgen Thaler: "Für Felder war Lob in Leipzig Tadel in Wien. Zur Rezeption und Funktionalisierung des literarischen Werkes von Franz Michael Felder." In: Klaus Amann u. a. (Hg.): Literarisches Leben in Österreich. 1848–1890. Wien u. a. 2000, S. 730–754, hier S. 745–747.
[9] Wilhelm von Hamm: "Bauer und Dichter." In: Neue Freie Presse, 23. Mai 1869, S. 1–3, hier S. 2.
[10] Ebenda.
[11] Vgl. Michel Foucault: "Was ist Aufklärung?" [1984] Übers. v. Hans-Dieter Gondek. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980–1988. Hg. von Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt a. M. 2005, S. 687–707.