Philosophie auf dem Centre Court:
Über Laurent Binets Roman Die siebte Sprachfunktion
Patrick Kilian
February 07, 2017 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.169 editorial review CC BY 4.0 |
print comment |
Keywords: barthes | binet | french theory | homosexuality | lectures | literature | structuralism | tennis | vincennes
1. VORLESUNGEN IN DER SAUNA ↓
2. LEVIATHAN IM TIE-BREAK ↓
3. DER WILLE ZUM WISSEN UND ZUR MACHT ↓
4. MATCHBALL ↓
Der Citroën DS, die Automobil-Ikone aus Roland Barthes' berühmten Mythen des Alltags. Cover-Detail der deutschen Ausgabe von Laurent Binets Die siebte Sprachfunktion (Rowohlt 2017).
Am 25. Februar 1980 wird der Philosoph und Semiotiker Roland Barthes Opfer eines Verkehrsunfalls. Er befindet sich gerade auf dem Rückweg von einem Mittagessen mit dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten François Mitterrand, als er beim Überqueren der Straße von einem Kleintransporter erfasst und schwer verletzt wird. Doch war es wirklich ein Unfall, oder handelte es sich um einen Mordversuch? Der französische Schriftsteller Laurent Binet nimmt dieses Gedankenspiel zum Ausgangspunkt seines neuen Romans Die siebte Sprachfunktion,[1] der ein turbulentes Tableau aus Spionage-, Kriminal-, Intellektuellen- und Theoriegeschichte entfaltet. Aus der "French Theory" wird so eine "French Connection".
Um die mysteriösen Umstände von Barthes' Unfall aufzuklären, begibt sich Binets Ermittler, Hauptkommissar Bayard, in das Dickicht der französischen (Post-) Strukturalistenszene. Unterstützt von dem sprachwissenschaftlichen Doktoranden Simon Herzog, den er an der Universität Vincennes als Assistenten rekrutiert, beginnt Bayard seine Ermittlungen am Collège de France. Michel Foucault, der kurz nach dem Unfall an der Unglücksstelle eingetroffen war und seinen Kollegen Barthes identifiziert hatte, wird als erster Zeuge verhört. Es ist Mittwoch, der 27. Februar 1980, 9 Uhr früh, als Bayard und Herzog im Collège eintreffen, wo Foucault gerade seine Vorlesung zur "Regierung der Lebenden"[3] abhält.
Bayard, der wenig für die französische Intellektuellenkultur übrig hat, begegnet dort einem wild durcheinander gewürfeltem Publikum: "Junge, Alte, Hippies, Yuppies, Punks, Grufties, Engländer in Tweetjacke, Italienerinnen mit tiefem Ausschnitt, Iranerinnen im Tschador, Großmütterchen mit Hündchen." (27) Von dem, was vorne am Pult gesprochen wird, versteht der Kommissar wenig bis nichts, auch erliegt er nicht der Faszination, die der Vorleser offensichtlich auf seine Hörer ausübt – im Besitz der siebten Sprachfunktion scheint Foucault also nicht zu sein. Für Bayard sind diese "Vorlesungen, die nur linksradikale Arbeitslose, Rentner, Illuminaten und pfeiferauchende Profs interessieren" ein fremdes und sinnloses Unterfangen: "Dies ist nicht der Ort, wo man ein Handwerk erlernt. Ihre Episteme können sie sich sonstwohin stecken" (29).
Doch es hilft nichts, Bayard muss sich an die Arbeit machen und Kontakt zu diesen Typen aufnehmen, von denen er nur hofft, dass sie nicht mehr verdienen als er selbst. Die erste Befragung verläuft ergebnislos. Foucault ist wie immer auf dem Sprung,[4] und der Kommissar muss seinen Zeugen auf dem Flur zwischen Tür und Angel stoppen. Auch ein zweites, für den konservativen Algerien-Veteranen Bayard offenkundig unangenehmes Treffen im Diderot Bad an der Gare de Lyon, einer einschlägigen Schwulensauna, verläuft wenig ergiebig. Schwitzend und umringt von jungen Strichern gibt Foucault keine verwertbaren Informationen zum Unfallhergang oder zu möglichen Gründen für ein Attentat auf Barthes, sondern doziert über Homosexualität im antiken Griechenland.
In der Folge trifft das ungleiche Ermittlerteam auch den Rest der 'French Theory Connection'. Alle haben ihren Auftritt: Louis Althusser, dem seine Frau die Flecken vom Hemd tupfen muss; Gilles Deleuze, der zurückgelehnt im Sessel über Tennis philosophiert; der von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Philippe Sollers; Julia Kristeva, scharfzüngig und streitlustig; Bernard-Hénri Levy, selbstverliebt und im notorisch weit aufgeknöpften weißen Hemd gekleidet; sowie ein nicht mehr ganz taufrischer Jacques Lacan, der in größerer Runde am liebsten geistesabwesend vor sich hin summt. Binet überzeichnet seine Figuren dabei ins Groteske: Tendenziell taktlos und mit durchaus erfrischender Respektlosigkeit entlarvt er ihre Eitelkeiten, internen Hahnenkämpfe, festgefahrenen Konflikte und unerfüllbaren Geltungsbedürfnisse. Doch vom Grotesken zum Klamauk ist es immer nur ein kurzer Weg, und Binet lässt die Phantasie ein wenig zu oft mit sich durchgehen.
Die sechs Sprachfunktionen nach Roman Jakobsons Aufsatz "Linguistics and Poetics" (1960)
2. LEVIATHAN IM TIE-BREAK ↑
Auf der Jagd nach der verlorenen Sprachfunktion begegnen Bayard und Herzog nicht nur den französischen Meisterdenkern und ihren Marotten. Sie treffen auch auf ausländische Geheimdienste, werden in filmreife Verfolgungsjagden verwickelt und geraten zwischen die Fronten des Machtkampfes zwischen Mitterand und Giscard d'Estaing. Ein Hinweis führt sie schließlich nach Italien zu Umberto Eco, der wie Barthes über Semiotik arbeitet und die beiden Ermittler auf die Spur eines elitären Geheimbundes bringt. Dieser "Logos Club" ist eine Art geistiger "Fight Club"[5], eine Arena des intellektuellen Schlagabtauschs, in der äußerst gepflegt und sehr theoretisch mit Worten gekämpft und eine Niederlage sehr praktisch und äußerst schmerzhaft mit der Amputation eines Fingers bezahlt wird.
Später inszeniert Binet dann noch ein weiteres intellektuelles Match zwischen französischem (Post-)Strukturalismus und US-amerikanischer Linguistik: An der Cornell University in Ithaca, New York, lässt er den Literaturtheoretiker Jonathan D. Culler unter dem Titel "Shift into overdrive in the linguistic turn" eine Konferenz organisieren, die das who's who der zeitgenössischen Philosophie versammelt. Noam Chomsky, Jacques Derrida, Foucault, Félix Guattari, Roman Jakobson, Frederic Jameson, Kristeva, Jean-François Lyotard, Richard Rorty, Edward Saïd sowie John Searle und einige andere bevölkern nun dicht gedrängt die Seiten des Romans. Konflikte sind hier natürlich vorprogrammiert. Am Ende der Tagung findet schließlich eine große Feier in einem der Studentenheime statt, in der es drunter und drüber geht (und dabei liegt '68 doch bereits zwölf Jahre zurück).
In Binets Roman gerät das philosophische Streitgespräch, das in theoriewütigen Seminaren an der US-amerikanischen Westküste wie in den geheimnisvollen Duellen des Logos Club gleichermaßen geführt wird, zum Tennis-Match. Ausgangspunkt hierfür ist eine deleuzianische Interpretation der Spielweisen von Björn Borg, John McEnroe und Jimmy Connors: "Aber Connors […] was für ein flacher Ball, dieses Spiel auf Risiko, diese dynamischen Pässe … das hat auch etwas sehr Aristokratisches. Borg: spielt ganz von hinten, schiebt den ball flach übers Netz. Das verstehe, wer mag. Borg erfindet das Tennis für den Proletarier. McEnroe und Conners spielen natürlich wie die Fürsten." (82) So verstanden, wird Tennis zum Symbol eines Klassenkampfs, zur Chiffre eines Aufbegehrens gegen den Souverän, in dem der Proletarier Borg den übermächtigen Leviathan herausfordert.
Am Ende lässt Binet seinen Protagonisten, den jungen Semiotiker Simon Herzog, diesen Gedanken auf das Rededuell rückbeziehen: "Meiner Meinung nach gibt es zwei große Herangehensweisen. Die Semiotik und die Rhetorik, verstehen Sie? […] Die Semiotik hilft verstehen, analysieren, dekodieren – sie ist defensiv, sie ist Borg. Die Rhetorik ist dazu da, zu überreden, zu überzeugen, zu besiegen – sie ist offensiv, sie ist McEnroe. […] Die Semiotik ist wie Borg: Es reicht, den Ball ein einziges Mal mehr zurückzuspielen als der Gegner. Die Rhetorik, das sind die Asse, Volleys, Spin- und Longline-Bälle, aber die Semiotik, das sind die Returns, Passierschläge und Lobs" (415).
Streitgespräche erscheinen damit nicht nur als ein Sprachspiel, sondern auch als eine Art Wettkampf, bei dem es um Verlieren und Gewinnen, Sieg und Niederlage, und damit letztlich auch um eine Form der Machtausübung geht. So hat es auch die Historikerin Nina Verheyen in ihrem Buch "Diskussionslust" über die Streitkultur in Deutschland ausgedrückt: Der "nur vermeintlich freie[-] Meinungsaustausch" zugunsten des "besseren Arguments" ist immer auch "als Machttechnik wie als Gegenstand zeitgenössischer Normierungsversuche in den Blick zu nehmen. Wer schmückte sich mit seiner Gesprächsbereitschaft als symbolischem Kapital, wer profitierte von argumentativen Gesprächen – und wer fiel ihnen zum Opfer?"[6]
Binet treibt diesen Gedanken mit seiner Darstellung des Logos Clubs gewissermaßen auf die Spitze und reduziert das Rededuell auf seinen performativ-agonalen Charakter: Es geht in diesen Wettkämpfen nicht um Wissen, Wahrheit oder Erkenntnis, sondern einzig und allein um einen Sieg, soziales Prestige, Applaus – und darum seine Finger zu behalten.
Foucault im Auditorium. Um ihn herum: "Junge, Alte, Hippies, Yuppies, Punks, Grufties, Engländer in Tweetjacke, Italienerinnen mit tiefem Ausschnitt, Iranerinnen im Tschador, Großmütterchen mit Hündchen." (Quelle: frenchculture.org)
3. DER WILLE ZUM WISSEN UND ZUR MACHT ↑
Diese Konstellation hat eine längere Geschichte. Als Foucault im Winter 1970 seine Professur am Collège de France angetreten hatte, zehn Jahre bevor Binet seine beiden Ermittler zu ihm schickte, begann er seine Vorlesungen mit der Frage nach der Herkunft des "Willens zum Wissen". Gleich in der ersten Sitzung am 9. Dezember 1970 sprach Foucault dabei von einem "Spiel", das er "spielen möchte", und in dem es darum gehe, "herauszufinden, ob der Wille zur Wahrheit nicht in einem Ausschließungsverhältnis zum Diskurs steht […]. Anders gesagt, gilt es herauszufinden, ob der Wille zur Wahrheit nicht ebenso tiefgreifend historisch ist wie jedes andere Ausschließungsystem; ob er nicht wie sie in seiner Wurzel willkürlich ist; ob er nicht wie sie in der Geschichte verändert werden kann; ob er nicht wie sie auf einem ganzen Netz von Institutionen basiert und daher wie sie von diesem institutionellen Netz immer wieder ins Spiel gebracht wird".[7]
Konkret galt Foucaults Interesse der griechischen Antike und dem Ausschluss der Sophisten durch die frühen Philosophen. Der Kampf zwischen Sophistik und Philosophie erscheint hierbei als ein Machtkampf. "Sophismen", so Foucault, "werden nicht bewiesen, sie gewinnen oder verlieren"[8] und stehen damit nicht in der gleichen Beziehung zur Wahrheit wie die ihnen gegenüberstehenden Philosophen. Sie stehen ihnen nicht nur gegenüber, sondern diametral entgegen: der Sophist ist das "Außen des philosophischen Diskurses […] – ein Außen, dessen Ausschaltung erst die Existenz der Philosophie ermöglicht; ein Außen, an das sich der philosophische Diskurs in undurchsichtiger Weise anlehnt"[9]. Und die Geste dieses Ausschlusses markiert nicht nur die Geburt der Philosophie und ihres Willens zum Wissen, sondern auch einen Übergang vom "Machtwissen" hin zum "Wahrheitswissen"[10].
Mit seiner Erfindung der siebten Sprachfunktion, dem geheimnisvollen Logos Club (dessen Rangordnung sophistischen Vorbildern folgt und an dessen Spitze ein mysteriöser Protagoras steht) und der Verstrickung des Kriminalfalls in machtpolitische Interessen bringt Binet dieses "Machtwissen" aus der Antike zurück in die 1980er Jahre. In seiner Erzählung ist der Wille zum Wissen erneut einem Willen zur Macht gewichen, der die involvierten Akteure auch vor Mord nicht zurückschrecken lässt. Ob diese Verschiebung ein Effekt postmodern-relativistischer Zurückweisungen von Wahrheitsansprüchen ist, den Logiken der Wissensgesellschaft folgt, die Wissen zu einer Ressource erklärt hat, oder sich den Massenmedien und ihren politischen Auswirkungen verdankt, lässt Binet jedoch offen.
Leviathan herausfordern: Der Schwede Björn Borg 1979 im Finale des ABN Tennis Turniers in Rotterdam (Quelle: Wikimedia Commons).
4. MATCHBALL ↑
Am Ende des Romans stehen die beiden großen Duelle und Entscheidungen des Jahres 1981: die französischen Präsidentschaftswahlen und die French Open. François Mitterrand gegen Giscard d'Estaing und Björn Borg gegen Ivan Lendl. In beiden Fällen gibt es einen Gewinner und einen Unterlegenen. Fernab der Fernsehkameras kommt es auch im Logos Club zu einer Entscheidung um die Spitzenposition der Geheimgesellschaft – und diesmal geht es um mehr als nur um den Verlust eines Fingers.
Mit Die siebte Sprachfunktion ist Laurent Binet zwar ein unterhaltsamer und spannend erzählter Roman gelungen, der 2015 auch mit dem Prix Interallié ausgezeichnet wurde. Allerdings beginnen sich die zahllosen kleinen Anekdoten und subtilen Verweise auf Theoriefragemente aus Linguistik, Semiotik und Strukturalismus nach einiger Zeit abzunutzen. Gerade diese intellektuellen Schmeicheleien sind vielleicht dafür verantwortlich, dass der Roman großes Gefallen beim Feuilleton gefunden hat. Die Klasse seines ersten großen Romans HHhH[11] über das Attentat auf Reinhard Heydrich, der 2010 veröffentlicht und im gleichen Jahr mit dem Prix Goncourt du premier roman ausgezeichnet wurde, konnte Binet diesmal leider nicht erreichen. Damit ist allerdings noch nichts verloren, denn es gibt schließlich immer ein Rückspiel.
[1] Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion, übers. Kristian Wachinger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2017 (Orig.: Le septième fonction du langage, Paris: Éditions Grasset & Fasquelle 2015). Im Folgenden durch Angabe der Seitenzahl im Fließtext zitiert.
[2] Roman Jakobson: Closing Statement: Linguistics and Poetics, in: Thomas A. Sebeok (Hg.): Style in Language, Cambridge, Mass.: MIT Press 1960; S. 350–377.
[3] Michel Foucault: Die Regierung der Lebenden. Vorlesungen am Collège de France 1979–1980, übers. Andrea Hemminger, Berlin: Suhrkamp 2014 (Orig.: Du gouvernement des vivants. Cours au Collège der France (1979–1980) , Paris: Seuil/Gallimard 2012). Um dem enormen Publikumsandrang bei seinen Vorlesungen entgegenzuwirken, hatte Foucault seine Vorlesungen 1976 von 17:45 Uhr auf 9 Uhr morgens verlegt. Diese Strategie war allerdings wenig erfolgreich, denn seine Vorlesungen mussten stets noch in einen zweiten Hörsaal per Lautsprecherübertragung gesendet werden, um alle Zuhörer zu erreichen, siehe ebd. S. 8.
[4] Vgl. hierzu: Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart: Klett-Cotta 2014, S. 78.
[5] Natalie Levisalles: Barthes selon Binet: "La science de Sherlock Holmes", in: Libération (4. September 2015).
[6] Nina Verheyen: Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des "besseren Arguments" in Westdeutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 12.
[7] Michel Foucault: Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970–1971, übers. Michael Bischoff, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 16 (Orig.: Leçons sur la volonté de savoir. Cours au Collège de France (1970–1971). Suivi de Le savoir d'Œdipe, Paris: Seuil/Gallimard 2011).
[8] Ebd., S. 88.
[9] Ebd., S. 61.
[10] Ebd., S. 170.
[11] Laurent Binet: HHhH. Himmlers Hirn heißt Heydrich, übers. Mayela Gerhardt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011 (Orig.: HHhH, Paris: Éditions Grasset 2010).