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Foucault und die Herausforderungen der Kritik: Kommentar zur Tagung "Foucault Revisited" am 4. und 5. November 2016 an der Universität Wien


Podiumsdiskussion der Tagung "Foucault Revisited" am 5.11.2016 an der Universität Wien (von links nach rechts: Renate Martinsen, Susanne Krasmann, Oliver Marchart, Philipp Sarasin, Matthias Flatscher).

Foucaults Werk hält mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod noch immer kritische Ressourcen für die Politische Theorie bereit, die es zu rekonstruieren und zu aktualisieren gilt. Diesem Anspruch folgte jüngst die Tagung "Foucault Revisited", die von 4. bis 5. November 2016 in Wien das Foucault'sche Denken mit aktuellen politischen und politik-theoretischen Herausforderungen konfrontierte: Vermag Foucault der Kritik aus der Krise zu helfen und neue Möglichkeiten für kritisches Denken zu eröffnen? Welche Impulse kann er heute noch geben – vor dem Hintergrund der Digitalisierung und einer autoritären Wende in der Politik? Können uns seine Ansätze weiterhin Wege weisen, "nicht dermaßen regiert zu werden"?

Ausgehend von diesen Fragen entfaltete die Tagung ein Panorama der rezenten Foucault-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Organisiert vom Lehrstuhl für Politische Theorie der Universität Wien (Prof. Dr. Oliver Marchart) und der Universität Duisburg-Essen (Prof. Dr. Renate Martinsen) fand die Tagung zudem ihre Einbettung im Rahmen der Themengruppe 'Konstruktivistische Theorien der Politik' der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. In 36 Vorträgen aus verschiedenen Fachbereichen – neben der Politikwissenschaft waren etwa auch Philosophie, Soziologie, Romanistik, Geschichte, Kunst- und Kulturwissenschaften sowie Theologie vertreten – wurden zentrale Begriffe Foucaults, der dieses Jahr seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte, kritisiert, aktualisiert und weitergedacht. Die unterschiedlichen Facetten des Foucault'schen Oeuvres wurden in vier Sektionen thematisiert: Zunächst wurden unter dem Schlagwort "Theorie" Grundprobleme und Grundbegriffe des Foucault'schen Denkens für die Politische Theorie fruchtbar gemacht, während es in der zweiten Sektion mit dem Titel "Vergleiche" mit theoretischen Ansätzen von Marx über Rancière bis hin zum New Materialism konfrontiert wurde. Unter dem Schlagwort "Problematisierungen" wurden in einer dritten Reihe von Panels aktuelle Anwendungsfelder für genealogische und archäologische Untersuchungen im Anschluss an Foucault (von der Biopolitik bis zum Grenzregime) aufgezeigt. Eine vierte Sektion widmete sich den erst jüngst herausgegebenen "Vorlesungen", die Foucault am Collège de France gehalten hat und die, wie sich zeigte, einen reichen Fundus an noch nicht ausgeschöpftem Potential sowohl für die Foucault-Forschung als auch für die Politische Theorie insgesamt bereithalten.

Philipp Sarasin wies in seinem Eröffnungsvortrag auf einen wichtigen Wendepunkt in Foucaults Denken hin. Ausgehend von Foucaults Interpretation der iranischen Revolution 1978/79, der späten Vorlesungen und ausgewählter Texte nach 1977 zeichnete Sarasin Foucaults Abrücken von 'der Linken' nach und fasste Foucaults Überlegungen zur Möglichkeit von Kritik bzw. den Impetus einer kritischen Haltung, "nicht dermaßen regiert zu werden", als Ausdruck einer wesentlichen Freiheit des Subjekts. Der späte Foucault habe sich von seinen systematischen Gesellschaftsanalysen und vor allem dem Konzept des Panoptismus abgewandt, sich Sartre angenähert und so den Willen des Subjekts, seine Möglichkeit zur Selbstdistanzierung, zu Kritik und Widerstand ins Zentrum seines Denkens gerückt. Sarasins Vorschlag löste einige Kontroversen aus: Den späten Foucault als einen liberalen Denker darzustellen, ging vielen zu weit. Der These, dass es tatsächlich eine Wende im Denken Foucaults gäbe, wurde entgegengehalten, dass damit wichtige Kontinuitäten aus dem Blick geraten würden.

Auch Thomas Lemke bezog sich in seiner Keynote auf Foucaults Begriff der Kritik. Sein Interesse galt dabei besonders dem Verhältnis von Erfahrung und Kritik. Ausgehend von der These, dass das Wiederauftauchen des Begriffs der Erfahrung in Foucaults späten Arbeiten eng mit einer signifikanten Verschiebung im Konzept der Kritik verbunden ist, entwickelte Lemke in seinem Vortrag die Idee einer experimentellen Kritik. Drei Implikationen eines solchen Kritikverständnisses hob Lemke hervor: Erstens behauptete er eine prinzipielle Bedingtheit von Kritik. Anstatt mit Begriffen wie Ideologie oder falschem Bewusstsein universale Gültigkeit einzufordern, ermöglicht es das Lesen von Foucaults Texten, die Grenzen von Wahrheitsregimen und Rationalität zu eruieren. Kritik wird reflexiv, lokal und eine nie endende Aufgabe. Zweitens ließen sich mit Foucault neue Lebensformen als transformierende Singularitäten beschreiben. Und drittens könne mit Foucault die Bedeutung von Affekten und Leidenschaften für die Kritik anerkannt werden. Während die Idee einer experimentellen Kritik bei den Tagungsgästen auf Interesse und Zustimmung stieß, wurden Fragen nach dem Verhältnis von Subjekt, Kollektiv und Erfahrung kritisch diskutiert: Kann Foucaults Erfahrung als kollektive Erfahrung konzipiert werden? Ist das Subjekt immer an kollektive Erfahrungen rückgebunden?

Susanne Krasmann überführte im dritten Keynote-Vortrag Foucaults Überlegungen aus Überwachen und Strafen ins digitale Zeitalter und ging der Frage nach, inwiefern Foucaults Analyse von Sichtbarkeitsregimen heute erneut einen spezifischen Zugang zu unserer Gegenwart ermöglicht. Krasmann zufolge geht die Befragung der Bedingungen des Sehens und Wissens mit einer Überschreitung der Grenzen unserer Perspektive einher. Wie der Vortrag aufzeigte, ist die Frage nach Sichtbarkeitsregimen gerade angesichts der umfassenden Zurschaustellung des eigenen Lebens in sozialen Medien politisch höchst aktuell. Das digitale Subjekt fungiert, so Krasmanns Diagnose, als Chiffre für die gegenwärtigen Machtregime, insofern es nicht bloß passives Objekt der Macht, der Datenanalysten und der Geheimdienste ist, sondern als aktives, datengenerierendes Subjekt die Mechanismen einer "Kontrollgesellschaft 2.0" mitproduziert und verkörpert. Zum Widerstand gegen solche digitalen Kontrollmechanismen bedürfe es daher eines Konzepts der visuellen BürgerInnenschaft, das es erlaube, eine Form der Kritik der Macht zu denken, die über die doppelte Bindung von Subjektwerdung und Unterwerfung im Begriff der Subjektivierung hinausgeht. So ließe sich eine emanzipatorische ZuschauerInnenrolle einnehmen, die gleichzeitig eine andere Perspektive eröffne. Als Beispiel für eine solche neue emanzipatorische Perspektive auf die gegenwärtigen Kontrollmechanismen verwies Krasmann auf Bilder des amerikanischen Künstlers Trevor Paglen. Mit seinen Fotografien von NSA-Abhörstationen, CIA-Gefängnissen und Spionagesatelliten mache Paglen sichtbar, was nicht gesehen werden soll, und könne doch nur äußere Hüllen und nicht die wirkmächtigen Vorgänge selbst zeigen. Die Bilder geben damit, so Krasmanns These, den Blick der Macht zurück, reflektieren die Techniken der "Kontrollgesellschaft 2.0" und durchkreuzen damit deren Willen zur Macht.

"Foucault Revisited" – dieser Anspruch wurde über die drei Hauptvorträge hinaus in zahlreichen Panels mit einer Vielzahl an Anknüpfungspunkten verfolgt. Es wurden nicht nur die Kategorien der Freiheit und der Gleichheit bei Foucault auf den Prüfstein gelegt und ihr Potential für politische Mobilisierungsprozesse ausgelotet. Auch die Frage der Rechte und Foucaults Ruf nach einem neuen Recht, befreit vom Prinzip der Souveränität, wurde mit Blick auf den Begriff der BürgerInnenschaft kritisch beleuchtet. Insgesamt war das Interesse an Fragen zur Möglichkeit und Kritik von Widerstand groß, wie sich etwa an den Diskussionen um eine "Krise der Linken" zeigte. Demnach sehe sich das linke Denken gegenwärtig mit der Herausforderung konfrontiert, vor dem Hintergrund einer autoritären Wende in der Politik und dem Aufkommen algorithmischer Wissensformen die eigenen Positionen zu festigen. Fraglich erscheint, wo eine widerständige Kritik heute konkret ansetzen kann. Die Vorschläge dazu reichten von einem utopischen Lokalismus, dem präfigurativen Blick in die Zukunft bis hin zur Idee einer experimentellen Kritik. Dabei blieb offen, wie das Verhältnis von normativer und deskriptiver Dimension von Kritik beschaffen sein sollte, ob es notwendig ist, eine normative Dimension von Kritik einzuführen oder ob auf eine solche Dimension verzichtet werden kann.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde nochmals Foucaults Rolle für die Politische Theorie thematisiert. Dabei zeigte sich die Relevanz einer dezidierten Inblicknahme aktueller politischer Fragestellungen, die im Rahmen der Tagung eher randständig behandelt worden waren. Wenn Foucault über geschichtliche Entwicklungen sprach, lenkte er den Blick zugleich auf gegenwärtige Probleme. Solche Foucault-Momente stellten sich im Lauf der Tagung nur dann und wann ein. So wurden in erster Linie zentrale Begriffe des Foucault'schen Denkens problematisiert, aber auf dessen praktische Implikationen für aktuelle politische Entwicklungen wurde kaum Bezug genommen.

Als Ausblick und Impuls für die weitere Foucault-Forschung im Rahmen der Politischen Theorie und darüber hinaus wurde auf die Dringlichkeit hingewiesen, das (selbst-)kritische Potenzial Foucaults fruchtbar zu machen. Dafür bedürfe es einer genaueren Berücksichtigung der wirklichkeitsproduktiven Effekte von Theoriebildung. Es gelte, anders gesagt, Foucaults Einsicht Rechnung zu tragen, dass theoretische Perspektivierungen immer auch daran mitbeteiligt sind, unsere diskursiven Praktiken zu rahmen und zu formatieren. Eine genauere Ausarbeitung dieses Verhältnisses bleibt auch über die Tagung "Foucault Revisited" hinaus ein Desiderat der Foucault-Forschung. Ähnliches gilt für die lediglich schlaglichtartig thematisierten Diskussionen um die affektive Verfasstheit von Subjekten, die vor allem in Foucaults Auseinandersetzung mit Nietzsche relevant werden, oder um die alteritätstheoretischen Anklänge in Foucaults Spätwerk, die einen neuen Blick auf Fragen der Individualisierung in Aussicht stellen. Gerade an diesen Verschiebungen im Denken des späten Foucaults zeigt sich, dass er auch heute noch, da ein Großteil seiner Begriffe im politikwissenschaftlichen Kanon angekommen zu sein scheint, die klassischen politischen Konzepte zu beunruhigen vermag.

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