Macht und Durchsichtigkeit:
Eine Anmerkung zu Michel Foucaults Vorlesungen "Die Strafgesellschaft"
Ruben Hackler
January 28, 2016 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.127 editorial review CC BY 4.0 |
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Keywords: althusser | discipline | french theory | ideology | politics | power | punishment
Louis Althusser
Lange ist sie erwartet worden, die Edition von Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France, in denen er die ersten Ergebnisse seiner Archivrecherchen für Suveiller et punir. Naissance de la prison (1975) einer größeren Öffentlichkeit vorstellte. Pünktlich zum vierzigjährigen Jubiläum von Überwachen und Strafen liegen sie in Buchform vor, die beiden Vorlesungszyklen aus den Jahren 1971–1972 (Théories et institutions pénales) und 1972–1973 (Die Strafgesellschaft).[1] Sie lassen Foucaults Analysen der modernen Disziplinarmacht, die einen nachhaltigen Einfluss auf die Geistes- und Sozialwissenschaften ausgeübt haben, in einem neuen Licht erscheinen. Dazu trägt vor allem auch die "Situierung der Vorlesungen" von Bernard E. Harcourt bei, der die intellektuellen Debatten in Frankreich zu Beginn der 1970er Jahre mit großer Sachkenntnis rekonstruiert. Er macht deutlich, dass es Foucault nicht nur um eine Genealogie der "panoptischen Gesellschaft" ging, sondern auch um eine Abgrenzung von marxistischen Sozialtheoretikern wie Edward P. Thompson und Louis Althusser, die in der Linken großes Ansehen genossen.
Von besonderem Interesse scheint mir Foucaults Auseinandersetzung mit Louis Althusser und seiner Theorie der "ideologischen Staatsapparate" zu sein. Anders als in Überwachen und Strafen, das eher versteckt auf die zeitgenössischen Kontroversen eingeht, werden in der Vorlesung Die Strafgesellschaft deutlich die Schwächen von Althussers Ideologietheorie benannt. Harcourt fasst Foucaults Kritik am Ideologiebegriff und der damit zusammenhängenden Herrschaftskonzeption prägnant zusammen: "Das Unbewusste zu durchforsten oder sich einer Hermeneutik des Verborgenen zu widmen, ist witzlos, man muss nur die Archive lesen und immer wieder von neuem lesen, durchforsten, zuhören, wiederfinden."[2] Leider gelingt es Harcourt nicht, auch die Überschneidungen zwischen der Machtanalytik Foucaults und Althussers Ideologietheorie zu benennen. Darauf soll im Folgenden eingegangen werden.
Es bedarf zunächst einer Erläuterung, warum sich Foucault im Kontext von Überwachen und Strafen überhaupt eingehender mit Althussers Ideologiebegriff befasste. In dessen Aufsatz "Ideologie und ideologische Staatsapparate" von 1970 ging es nur am Rande um die gesellschaftliche Funktion des Rechts.[3] Althussers Anspruch war es, zunächst die Funktionsweise des Staates im Allgemeinen zu bestimmen, anscheinend auch weil ihm die rechtswissenschaftliche Expertise fehlte, um weitergehende Aussagen zu treffen.[4] Ebenso wenig findet man bei ihm Überlegungen zur historischen Genese des Staates, die mit dem Kenntnisstand in Überwachen und Strafen auch nur annähernd vergleichbar wären. Foucaults Beschäftigung mit Althusser ist darauf zurückzuführen, dass dieser mit seiner Ideologietheorie zu erklären beanspruchte, warum es bisher nicht gelungen war, den Kapitalismus zu überwinden. Er verwies auf das Gewaltmonopol des Staates, das der Verteidigung des Privateigentums an Produktionsmitteln dient, und auf das ideologische Bewusstsein, das in der Schule oder in der Kirche vermittelt wird und konformistische Haltungen begünstigt. Für Althussers Erklärungsansatz sprach, dass er Ideologie nicht mit dem Begriff des falschen Bewusstseins kurzschloss, sondern als eine institutionell verankerte "Praxis" definierte. Deshalb ist bei ihm auch von Ideologietheorie die Rede, nicht von Ideologiekritik, die er für idealistisch hielt.
Foucault musste Althussers Argumentation jedoch aus mehreren Gründen ablehnen: Erstens stand er der (strukturalistischen) Psychoanalyse skeptisch gegenüber, und dementsprechend auch ihrer Integration in Althussers Ideologietheorie. Zweitens hatte er ausgehend von seiner Nietzsche-Lektüre damit begonnen, das Konzept der Wahrheit zu historisieren und damit in Frage zu stellen. Das belegen seine Vorlesungen Über den Willen zum Wissen von 1970–1971, in denen er Wahrheit als "Ergebnis einer Geschichte", als "Ereignis" bezeichnete – und damit die Möglichkeit völlig anderer "Ereignisse" in Betracht zog.[5] Schon in der Archäologie des Wissens von 1969 war er dazu übergegangen, den Begriff des Wissens dem der Wahrheit vorzuziehen, weil er weniger normativ ist.
Althussers Projekt der Ideologietheorie hingegen wäre ohne einen Begriff von Wahrheit aber nicht tragfähig gewesen. Scheinbar erkannte er dies selbst. Dafür spricht einerseits sein Versuch Mitte der 1960er Jahre, das normative Kriterium der "Richtigkeit" im philosophischen Diskurs zu etablieren, um den Unterschied zwischen wissenschaftlichen und ideologischen Aussagen zu stabilisieren; und anderseits sein Bemühen, ein gereinigtes Wissenschaftsverständnis unter marxistischen Vorzeichen zu etablieren. So fällt auch auf, wie wissenschaftsgläubig Althusser trotz seiner Kritik an der "spontanen Philosophie der Wissenschaftler"[6] war.
Darüber hinaus hatte Foucault während seines Engagements in der "Gruppe Gefängnisinformation" (GIP) "Erfahrungen" gemacht, die ihn offenkundig darin bestärkten, dass die Inhaftierten weniger einer Aufklärung durch Experten als praktische Solidarität bedurften.[7] In einem Artikel für J'accuse vom 15. März von 1971 erklärte er programmatisch:
Die Gruppe Gefängnisinformation hat mit ihrer ersten Untersuchung begonnen. Es handelt sich nicht um eine soziologische Untersuchung. Vielmehr sollen Menschen zu Wort kommen, die Erfahrung mit dem Gefängnis haben. Nicht dass man erst ihr ‚Bewusstsein wecken' müsse; das sehr deutliche Bewusstsein für die Unterdrückung ist längst da. Aber das gegenwärtige System verweigert den Betroffenen die Möglichkeit, ihre Interessen zu artikulieren und sich zu organisieren.[8]
Mit anderen Worten, die Macht der Institution Gefängnis war nicht undurchsichtig, wie die Rede von der Hermeneutik des Verborgenen nahelegt, ihre Repräsentanten stellten sich schlichtweg taub für die Kritik der miserablen Haftbedingungen. Daher verwundert es auch nicht, wenn Foucault der Theorie der "ideologischen Staatsapparate" und überhaupt dem Ideologiebegriff eine Absage erteilte. Das Problem, einen angemessenen Umgang mit der Macht zu finden, war für ihn kein ideologisches, sondern in erster Linie ein strategisch-praktisches. Es bestand darin, die richtigen Allianzen zu schmieden und eine kraftvolle Gegenwehr zu organisieren, um die Haftbedingungen effektvoll zu skandalisieren.[9] In der bereits zitierten Vorlesung vom 28. März 1973 wird das wie folgt erläutert:
Wo die Soziologen nur das stumme oder unbewusste System der Regeln sehen, wo die Epistemologen nur schlecht kontrollierte ideologische Wirkungen sehen, glaube ich, dass man Strategien der Macht sehen kann, die vollkommen kalkuliert, beherrscht sind. Das Strafrechtssystem ist hierfür ein besonders gutes Beispiel.[10]
Dass die Strategien der Strafpraxis "vollkommen kalkuliert" sind, mag vielleicht für die konkrete Auseinandersetzung mit dem Gefängnissystem Anfang der 1970er zutreffend gewesen sein. Die Fronten zwischen der Justiz und den Befürworterinnen und Befürwortern einer grundlegenden Gefängnisreform waren verhärtet, nicht zuletzt weil die revolutionäre Stimmung weite Teile der französischen Gesellschaft zu erfassen schien. Nimmt man aber zur Kenntnis, dass die Machtanalytik Foucaults in den folgenden Jahrzehnten immer mehr Aufmerksamkeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften erfahren hat, während der Ideologiebegriff lange nur noch in kleinen Kreisen diskutiert wurde, stellt sich die Situation anders dar.[11] Dann nämlich gilt es zu klären, ob der Marginalisierung von Althussers Ideologietheorie im wissenschaftlichen Feld tatsächlich ein Verschwinden von Ideologien in der gesellschaftlichen Praxis entsprach.
Die Schule als Teil der staatlichen Disziplinarmaschine: Ordre Géneral de l'École, 1818 (aus: Michel Foucault: "Surveiller et punier. La naissance de la prison", Paris: Gallimard 1975).
Diese Frage, die eine differenzierte Analyse erfordert, kann hier nicht beantwortet werden. Ich möchte dennoch auf zwei Gesichtspunkte eingehen, die bei einer Diskussion über den Ideologiebegriff mit Blick auf das intellektuelle Feld in Frankreich zu berücksichtigen wären. Erstens gibt es (neben den Unterschieden) eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen Althussers Theorie der ideologischen Staatsapparate und Foucaults Genealogie der Disziplinarmacht, auf die Harcourt in seinem Kommentar aber nicht eingeht. Die wichtigsten seien hier stichpunktartig genannt:
1.) Althusser und Foucault beschrieben beide das Ineinandergreifen gesellschaftlicher Institutionen wie Schule, Gefängnis und Fabrik, die sich wechselseitig stützen und in ihren Wirkungen verstärken.
2.) Beide gingen davon aus, dass das Individuum im Kapitalismus auf subtile Weise "in Beschlag genommen"[12] (Foucault) oder "angerufen" (Althusser) und damit in die kapitalistische Verwertungsmaschinerie integriert wird.
3.) Beide widmeten sich der Konstitution von Subjektivität im Rahmen "totaler Institutionen" (Erving Goffman), die das Individuum in möglichst vielen Hinsichten erfassen und zurichten.
4.) Beide, freilich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, verstanden die Ausübung von Macht als einen kommunikativen Prozess, der nicht auf seine repressiven Momente zu reduzieren ist, sondern auch produktive Effekte zeitigt.[13] Aus diesem Grund beschäftigten sie sich ausgiebig mit zivilgesellschaftlichen Institutionen: Foucault widmete sich der Schule, Althusser ging darüber hinaus auch auf die Kirche und deren ideologischen Effekte ein.
5.) Beide analysierten die Internalisierung von Normen, gingen in ihren theoretischen Schriften aber nur wenig auf die Möglichkeiten des Widerstands ein, wobei die Disziplinarmacht in den Vorlesungen zur Strafgesellschaft, verglichen mit dem Narrativ in Überwachen und Strafen, noch nicht allgegenwärtig erscheint.
Es würde sich lohnen, nicht nur Foucaults Genealogie der Disziplinarmacht ausgehend von den politischen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit zu lesen, sondern auch Althussers Theorie der ideologischen Staatsapparate. In der Rezeption werden in der Regel die philosophischen Bezüge Althussers wie auch die zahlreichen Mängel seiner Ideologietheorie hervorgehoben.[14] Mir erscheint es jedoch wichtiger (und für eine auf die Gegenwart gerichtete Diskussion furchtbarer), dass Althusser Ende der 1960er Jahre darum bemüht war, den Revolten gegen die Institutionen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einen theoretischen Ausdruck zu verleihen, indem er die Funktionsweise von Herrschaft unter dem Stichwort "Anrufung" analysierte. Geht man von dieser spezifischen Problemstellung aus, die auch in den Vorlesungen Die Strafgesellschaft im Mittelpunkt stand, waren sich Foucault und Althusser weitaus näher, als jener damals in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit im akademisch-politischen Feld bereit war zuzugeben.
Zweitens kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Foucault ideologische Haltungen beschrieb, aber nicht gewillt war, sie so zu nennen. So ging er auf das Problem ein, dass das Gefängnis in vielen Fällen nicht zur Besserung der Inhaftierten beiträgt, weil es ein kriminelles Milieu im Inneren erzeugt, das ihre Wiedereingliederung erschwert. Dieser Widerspruch war zwar schon im 19. Jahrhundert registriert worden, doch konnte dies nichts daran ändern, dass sich das Gefängnis zur dominanten Form der Verbrechensbekämpfung in Westeuropa und den USA (wie auch darüber hinaus) entwickelt hat. Dass weiterhin am Einschließungsprinzip festgehalten wird, obwohl der präventive Nutzen erkanntermaßen sehr begrenzt und häufig überhaupt nicht gegeben ist, kann kaum anders denn als Ideologie bezeichnet werden.
Es gibt noch weitere Beispiele aus der Strafgesellschaft, die eindeutig unter die Rubrik "Ideologie" fallen. Zum Beispiel musste die liberale Idee der Vertragsfreiheit im 19. Jahrhundert dazu herhalten, die Ausweitung der Marktlogik zu legitimieren, obwohl diese unzumutbare Lebensumstände für das Fabrikproletariat mit sich brachte. Die Ideologie der Vertragsfreiheit bestand nun gerade nicht darin, dass den Beteiligten das Elend verborgen geblieben wäre. Die Ausbeutungsverhältnisse waren augenscheinlich. Doch die von Foucault eindrücklich beschriebene "Moralisierung der Arbeiterklasse", die darin bestand, Widerstände gegen die Disziplinarmacht für illegitim zu erklären, um den Gehorsam gegenüber dem kapitalistischen Arbeitsregime zu honorieren, weist auf die double standards des liberalen Diskurses hin. Einerseits, so die liberale Theorie, sollten alle gleiche Chancen und Rechte haben, andererseits wurde die Kritik, dass in Wirklichkeit nicht alle gleich waren, marginalisiert oder gar für unzulässig erklärt. Darin kam eine Indifferenz gegenüber dem Leid anderer zum Ausdruck, die auch eine ideologische Dimension hatte, insofern nicht die widersprüchliche Haltung wahrgenommen wurde, die damit einherging. Es gibt keinen guten Grund, diesen Zusammenhang zu ignorieren, nur um nicht ins Fahrwasser einer vermeintlich falschen oder als überwunden geglaubten Ideologiekritik zu geraten.
[1] Michel Foucault: Théories et institutions pénales. Cours au Collège de France (1971–1972), hrsg. von Bernard E. Harcourt, Paris: Seuil 2015, Michel Foucault: Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1972–1973, hrsg. von Bernard E. Harcourt, Berlin: Suhrkamp 2015.
[2] Bernard E. Harcourt: Situierung der Vorlesung, in: Foucault: Die Strafgesellschaft, S. 356–414, hier S. 395.
[3] Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband: Michel Verrets Artikel über den "studentischen Mai". Ideologie und ideologische Staatsapparate. Notiz über die ISAs, hrsg. v. Frieder Otto Wolf, Hamburg: VSA 2010.
[4] Vgl. Frieder Otto Wolf: Nachwort, in: Louis Althusser: Über die Reproduktion. Ideologie und ideologische Staatsapparate, 2. Halbband: Fünf Thesen über die Krise der katholischen Kirche. Über die Reproduktion der Produktionsweise, hrsg. v. Frieder Otto Wolf, Hamburg: VSA 2012, S. 315–368, hier S. 322.
[5] Michel Foucault: Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège des France 1970–1971, hrsg. v. Daniel Defert, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 264 u. 272.
[6] Vgl. Louis Althusser: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, Hamburg: Argument 1985.
[7] "Michel called the GIP an information groupe, but ‚information' is not quite the right word: the GIP was a kind of experiment in thinking." Gilles Deleuze: Foucault and the Prison, in: History of the Present 2 (Spring 1986), S. 1–2 u. 20–21, hier S. 1.
[8] Michel Foucault: Über die Gefängnisse, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Band II: 1970–1975, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 213–214, hier S. 213f.
[9] Vgl. dazu den Bericht von Daniel Defert: Ein politisches Leben. Gespräche mit Philippe Artières und Éric Favereau in Zusammenarbeit mit Joséphine Gross, Berlin: Merve 2015, S. 53–74.
[10] Foucault: Die Strafgesellschaft, S. 321.
[11] In jüngster Zeit wurde die Diskussion über das Phänomen der Ideologie wieder aktiviert. Vgl. Rahel Jaeggi: Was ist Ideologiekritik?, in: dies, Thilo Wesche (Hg): Was ist Kritik?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 266–295.
[12] Foucault: Die Strafgesellschaft, S. 287.
[13] Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband, S. 53.
[14] Für eine Rekapitulation vgl. Wolf: Nachwort, in: Althusser: Über die Reproduktion, S. 340–355.