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Bielefeld 1984, oder: Wie sich Norbert Elias und Michel Foucault fast begegnet wären


Norbert Elias / Michel Foucault

Norbert Elias ist enttäuscht. Er blickt suchend über einen der Gänge des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld, an dem er seit sechs Jahren als Fellow arbeitet. Gleich wird die von ihm organisierte Konferenz zur "Theorie der Zivilisation" beginnen, doch noch immer fehlt einer der prominentesten der eingeladenen Referenten – Michel Foucault. Der ebenfalls bei dieser Tagung anwesende Gerhard Sprenger erinnert sich später an diesen Tag: "Foucault hatte zugesagt – und kam nicht. Er hatte sich auch nicht entschuldigt. Das war – auch für Elias – eine große Enttäuschung. Dann haben wir erfahren, dass er wohl an dem Tag, and dem die Tagung begann, gestorben war …"[1]

Es ist mir leider nicht gelungen, in Erfahrung zu bringen, ob Elias' Konferenz tatsächlich am Montag, den 25. Juni 1984, begonnen hatte, die Nachricht von Foucaults plötzlichem Tod kam jedoch nicht nur für die Bielefelder Forschergruppe unerwartet. Auch Paul Veyne – Foucaults enger Freund und Büronachbar am Collège der France – berichtet von diesem Tag, "Keiner von denen, die ihm nahe standen, hat etwas geahnt. Erst am Tag nach seinem Tod haben wir von allem erfahren. Nach Auskunft von Daniel Defert hatte Foucault in seinem Notizbuch festgehalten: ‚Ich weiß, dass ich Aids habe, aber bei meiner Hysterie vergesse ich es immer wieder.'"[2] Obwohl Aids zu diesem Zeitpunkt noch eine "ferne und unbekannte Geißel" war, die man "ins Reich der Sage verwies und für nur imaginär halten konnte",[3] stimmt es wohl nicht ganz, dass der workaholic Foucault seinen vorausgeahnten Tod vollständig unter Bergen von Arbeit begrub und verdrängte. Eine Spur, die seine intensive Auseinandersetzung mit dem Sterben andeutet, führt hierbei erneut zurück zu Elias. Denn obwohl Foucault die Arbeit des deutschen Soziologen wohl erst relativ spät wahrgenommen hatte, begann er wenige Monate vor seinem Tod damit, Elias' kurzes Buch Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen für seinen persönlichen Gebrauch ins Französische zu übersetzten.[4] War dies vielleicht auch eine Technik gegen die Hysterie des Verdrängens?

Es ist unnötig zu betonen, dass Foucaults Dispositv nicht der Figuration von Elias entspricht und Elias' Zivilisationsprozess nur wenig mit Foucaults Genealogie verbindet, und doch teilten beide ein langjähriges Interesse an Fragen der Macht und der Disziplinierung. Und auch zur Interaktion von Wissen und Macht – Foucaults zentraler intellektueller Obsession – äußerte sich Elias beispielsweise in einem 1984 publizierten Interview.[5] Außerdem wendeten sich beide in den 1980er Jahren vermehrt der griechischen Antike zu und konzentrierten ihren Fokus in dieser Denkbewegung immer mehr auf das Subjekt, wie Elias in einem Interview vom Dezember 1985 bereits mit Blick auf Foucault bemerkt: "L'Antiquité n'est pas une chose morte appartenant au passé mais elle conditionne nos propres manières de penser. J'ai été très heureux de voir que Foucault, après ses livres trop spéculatifs et abstraits à mon goût, s'était attaché à comprendre le développement de la conscience ou de l'image de soi chez les Grecs — je dirais plutôt, dans mon vocabulaire, les formations de la structure la personnalité."[6] Mit der Frage nach dem Subjekt stellt sich schließlich auch die Frage nach dem Tod: nicht dem epistemologischen Tod des Menschen, den Foucault so prophetisch in Die Ordnung der Dinge beschworen hatte, sondern dem individuellen Sterben des Einzelnen.


Der Euphronius-Krater, ca. 515 v.Chr. mit einer Darstellung des toten Sarpedon, der von Thanatos und Hypnis getragen wird. Im Hintergrund steht Hermes (Museo Nazionale Etrusco di Villa Giulia, Rom).

In dem 1982 veröffentlichten Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen beschreibt Elias den Tod als ein von der Moderne zunehmend verdrängtes Phänomen, mit dem der Einzelne von der Gesellschaft immer mehr alleine gelassen wird. Dieser Gedanke verweist auf einen Unterschied zu Foucault, denn Elias' grundlegendes gesellschaftstheoretisches Modell fragt zwar stets danach, "wie Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen interagieren und sich dabei verändern" aber strukturiert diese "Variabilität auf dem Boden einer nicht weiter hinterfragten stabilen Dualität zwischen beiden".[7] Auch wenn also Foucault und Elias also beide an der Historizität von Individuum und Gesellschaft interessiert waren, erschien ersterem diese Dualität grundlegend suspekt – in Foucaults Denken wird das Subjekt erst von der Gesellschaft produziert, entsteht in deren Innerem, ist ihr weder vor- noch nebenrangig, und bildet keine davon verschiedene Sphäre. Trotz dieser signifikanten Differenzen bleiben Gemeinsamkeiten. Denn während sich Foucault seit Beginn er 1980er zunehmend auf der Suche nach Selbsttechniken zur Gestaltung der eigenen Subjektivität befand, scheint Elias Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen genau aus dieser Perspektive verfasst zu haben.

In einer von der Theorie zur Praxis gleitenden Ausrichtung schreibt Elias: "Was ich wirklich wollte war, den Schleier der Mythologien zu durchbrechen, der unser Gesellschaftsbild verhängt, damit die Menschen vernünftiger und besser handeln können."[8] Will er seinen Lesern also eine Handlungsanleitung geben, um besser mit dem Tod umgehen zu können? Geht es hier bereits um Selbsttechniken? In seinem Vortrag Technologien des Selbst aus dem gleichen Jahr, nennt Foucault das praxisorientierte und selbstreflexive Nachdenken über den Tod eine "Meditation" und verweist dabei auf die Selbsterforschungskultur der Pythagoräer: "Für die Pythagoräer hatte Gewissenserforschung mit Reinigung zu tun. Da der Schlaf dem Tod als einer Art Begegnung mit Gott ähnelte, musste man sich reinigen, bevor man schlafen ging. An den Tod zu denken war eine Übung für das Gedächtnis."[9] Die Beschäftigung mit dem Tod wird hierbei in das Feld der Selbsttechniken verortet und als eine "Phase der Reflexion" des Subjekts mit sich selbst beschrieben: "Plinius rät einem Freund, sich ein paar Augenblicke am Tag oder mehrere Wochen oder Monate im Jahr zurückzuziehen – eine aktiv gestaltete Mußezeit, in der man studierte, las, sich auf ein Unglück oder den Tod vorbereitete."[10]

Zurück nach Bielefeld, zurück zu der mittlerweile begonnenen Konferenz. Elias ist noch immer enttäuscht und denkt darüber nach, was er seinen jüngeren französischen Kollegen hätte fragen wollen. Die möglichen Anknüpfungspunkte für gemeinsame Gespräche wären vielfältig gewesen – so zum Beispiel ihre Erfahrungen in Afrika: Während Elias zwischen 1962 und 1964 als Professor für Soziologie an der Universität von Ghana gearbeitet hatte, war Foucault zwischen 1966 und 1968 an der Universität von Tunis gewesen. Wie gut sich beide verstanden hätten, bleibt indes unklar. Ob der Autor von Über den Prozeß der Zivilisation[11] mit Foucault über dessen vermeintlich ‚spekulatives' und ‚abstraktes' Frühwerk gestritten hätte oder beide in ihrer gerade erwachten Begeisterung für die griechische Antike und die Entstehung des Subjekts beim Abendessen zusammengekommen wären, steht offen. Ein Jahr später, 1985, kommt Elias auf Einladung von Pierre Bourdieu für einige Vorträge nach Paris an die École des Hautes Etudes en Sciences Sociales und das Collège de France. Hier hätte er Foucault erneut treffen können, hier hätten beide ihre in Bielefeld begonnen Gespräche fortsetzten oder sich vielleicht auch aus dem Weg gehen können. Wer weiß?



[1] Gerhard Sprenger, in: Eberhard Firnhaber u. Martin Löning (Hrsg.): Norbert Elias. Bielefelder Begegnungen, Münster: Lit Verlag 2004, S. 94.

[2] Paul Veyne: Foucault. Der Philosoph als Samurai, Stuttgart: Reclam 2009, S. 216 (Fußnote 411).

[3] Ebd., S. 174.

[4] Vgl. Dennis Smith: Norbert Elias & Modern Social Theory, London: Sage Publications 2001, S. 18 (Fußnote 6); Norbert Elias: Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1982.

[5] Norbert Elias: Knowledge and Power: An Interview by Peter Ludes, in: Nico Stehr and Volker Meja (Hrsg): Society & Knowledge. Contemporary Perspectives in the Sociology of Knowledge & Science, New Brunswick: Transaction Publishers 1984, S. 451-291.

[6] Norbert Elias ou la sociologie des continuités, in: Labyrinth 5 (2000), S. 89-95, URL: http://labyrinthe.revues.org/273.

[7] Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: VS Verlag 2007, S. 34.

[8] Elias: Über die Einsamkeit, S. 49.

[9] Michel Foucault: Technologien des Selbst (1982), in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. IV, hrsg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt/M: Suhrkamp 2005, S. 966-999, hier: S. 989 u. 983.

[10] Ebd., S. 977.

[11] Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Basel: Verlag Haus zum Falken 1939 (Neuaufl. Bern/München: Francke 1969 sowie Frankfurt/M: Suhrkamp 1976 als Taschenbuch).

  1. Comment by S. M.

    guten Tag! Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Artikel. Könnten Sie mir eventuell den Author nennen, damit ich den Beitrag zitieren kann?

    Mit freundlichen Grüßen

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