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L'Occident


Google Books ngram viewer, "Occident", French, 1900-2000, 9.5.2014

Warum eigentlich spricht Michel Foucault immer vom Abendland, vom "Occident" mit einem grossen "O"? Warum sagt er nicht "Europe"? Oder "l‘Ouest", der Westen? Folgt man dem Google books ngram viewer, dann wird der Begriff "Ouest" mit grossem "O" im Französischen während dem gesamten 20. Jahrhundert doppelt so häufig benutzt wie der "Occident". Der "Westen" kann einiges heissen im 20. Jahrhundert; nach dem 2. Weltkrieg wurde er namentlich im amerikanischen Englisch als Signifikant der Vereinheitlichung der amerikanischen cum west-europäischen Blockbildung gegenüber der Sowjetunion verwendet. Der Begriff "Abendland" bzw. "Occident" hingegen war ein europäischer Leitbegriff: er war im Französischen besonders häufig im Gebrauch im Klassischen Zeitalter zwischen 1650 und 1750 – und dann wieder im Kalten Krieg bis zum Ende der 1950er Jahre. Im Deutschen setzt die Konjunktur des "Abendland"-Begriffs erst um 1800 ein, mit einem einsamen und unübertroffenen Höhepunkt 1950. Mit anderen Worten: Der Begriff "Occident" mit allen seinen nicht nur alteuropäischen, sondern damals vor allem auch anti-kommunistischen Konnotationen hatte nie eine solche Konjunktur wie just in der Zeit von Foucaults Ausbildung und bis zur Abfassung seines 1961 erschienenen Buches Folie et déraison.

Ein Autor sucht sich die Formen und Themen seiner Problematisierungen nicht ganz freiwillig aus, und es ist daher kein Zufall, dass Wahnsinn und Gesellschaft gleich im Vorwort in einer berühmten Passage nichts weniger als das, was das Abendland in seinem Gegensatz zum Orient sei und was seine spezifische Rationalität ausmache, problematisiert: "In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt: der Orient, den man sich als Ursprung denkt, als schwindeligen Punkt, an dem das Heimweh und die Versprechen der Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, der jedoch unendlich unzugänglich bleibt, denn er bleibt stets die Grenze. Er bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muss, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt. Die Geschichte dieser grossen Trennung während der Entwicklung des Abendlandes müssen wir schreiben und in ihrer Kontinuität und in ihrem Wechsel verfolgen; zugleich müssen wir sie aber auch in ihrer tragischen Versteinerung erscheinen lassen."

Die "Tragische Versteinerung" jener "grossen Trennung" zwischen dem Abendland und dem Orient, von der Foucault auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges spricht und über die zu schreiben er zu seiner vordringlichen Aufgabe macht… – nun, vielleicht sollte man sich die historisierende Frage stellen, wie weit Foucault damit nicht zumindest auch von der Versteinerung der "Blöcke" im Kalten Krieges gesprochen hat, die ja von vielen Autoren und Politikern der 1950er Jahre als grosse Konfrontation zwischen Abendland und Orient imaginiert wurde. Oder genauer: Foucault konnte offenbar ein Leben lang nicht anders tun, als seinerseits und auf seine Weise die Frage nach der Spezifität, ja der Besonderheit des Abendlandes zu stellen. Er selbst blieb, könnte man sagen, jener Geste der Grenzziehung, die so typisch war für den Kalten Krieg, ausgesetzt, ihr gewissermassen unterworfen, und alle seine Versuche, die Grenzen des Abendlandes zu überschreiten – von den Reisen nach Japan bis zur Begeisterung über die Revolution im Iran –, können dafür als Bestätigung gelesen werden. Daran ist nichts Ideologisches, vielmehr verweist es auf die Tatsache, dass der Ort des Sprechens, von dem aus Foucault mit der Publikation von 1961 die Konturen der abendländischen Vernunft zu vermessen begann, selbst kein neutraler Boden war, sondern ein Kampfplatz des Kalten Krieges.

Doch das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Wesentlicher ist, dass Foucault die Genese der abendländischen Vernunft, die sich in jenen Jahren zugleich so selbstgerecht und so kriegerisch gab, kritisch in Frage stellt. Das zu sagen bedeutet aber auch festzustellen: Foucaults "Werk" ist seit 1961 vor allem ein Indikator für die genau seit Beginn der 1960er Jahre zunehmend sich verstärkende Kritik an jenem hochideologisierten Abendland-Diskurs. Die ngram-viewer-Kurve zeigt den Rückgang deutlich an – ähnlich Kurven zu "Humanismus" oder "Christentum", die im Deutschen wie im Französischen zu Beginn des Kalten Krieges einen peak aufweisen, zeigen denselben signifikanten Rückgang dieser Thematisierungen wie die Occident- bzw. Abendland-Kurve. Nach der Kubakrise vom Oktober 1962 und den zunehmenden Protestbewegungen im Westen gegen nun nicht mehr den sowjetischen, sondern den amerikanischen Imperialismus verliert der Abendland-Diskurs rapide an Plausibilität, wenn man akzeptiert, dass die ngram-viewer-Kurve dafür ein Indikator ist.

Bis in die Mitte der 1980er Jahre allerdings steigt die Kurve wieder an – es ist die Zeit, in der Foucault seine Auseinandersetzung – und Wertschätzung – der Antike intensiviert. Honny soi qui mal y pense, könnte man dazu ebenso leichtfertig wie süffisant bemerken. Das soll aber nicht heissen, dass die Frage nicht erlaubt ist, ob und wie Foucaults neue Art, über das Subjekt und die Wahrheit nachzudenken, nicht auch durch spezifische historische Kontexte und Thematisierungskonjunkturen mitgeprägt wurde. Wir werden die Frage weiterverfolgen.

  1. Comment by Patrick Kilian

    Der Begriff des "Abendlandes" taucht 1961 – also genau im Erscheinungsjahr von "Wahnsinn und Gesellschaft" [1] – noch in einem anderen Buch auf, das dezidiert aus der Perspektive des Kalten Krieges geschrieben ist: Es handelt sich um Karl Jaspers Schrift "Die Atombombe und die Zukunft des Menschen" [2]. Obwohl sich Foucault diesem Begriff mit genealogisch-kritischer Distanz bedient, und Jaspers das "Abendland" zu einem appellativen Kampfbegriff des Kalten Krieges erhebt, tauchen in beiden Texten dennoch vergleichbare Muster auf. In den, im Schatten der Atombombe verhandelten, Gegensätzen zwischen Ost und West erkennt Jaspers zunächst ein Interferenzmuster, in dem sich ältere mit aktuellen Konflikten überlagern: "Der Grundbestand ist: Der Gegensatz des Abendlands und der früher als kolonial behandelten Gebiete wird durchkreuzt von dem Gegensatz Russlands und des Westens oder des Totalitarismus und der Freiheit" (S. 42). Diese auf verschiedenen Ebenen geführten, und nicht zuletzt auf dem Rücken der ehemaligen Kolonien ausgetragenen, Konflikte spitzt Jaspers dann zu einem Kampf um Wahrheit zu, in dem sich der Westen bzw. das Abendland und Russland unvereinbar gegenüber stünden: "Die einzige Waffe, die keine Waffe der Gewalt ist, steht, wie allen Menschen, so dem Abendlande zur Verfügung: die Wahrheit. Der Kampf der beiden Welten ist der zwischen Lüge und Wahrheit, aber so, daß das Totalitäre vom Prinzip her auf der Lüge sich aufbaut und dadurch mächtig wird, die freie Welt nicht wahrhaftig genug ist und dadurch schwach wird" (S. 61). Totalitarismus, Kommunismus und ‚unwahre' Ideologie bilden in dieser Vorstellung Synonyme und werden entschieden von dem demokratischen und ‚wahren' Sprechen des Westens und dessen aufgeklärt abendländischer Vernunft getrennt. Obgleich Russland, wie Jaspers betont, gewissermaßen auf der Grenze des Abendlandes liege, "zugleich abendländisch und asiatisch" sei, so markiere es dennoch die Trennungslinie des europäischen Raumes, und "kannte niemals die politische Freiheit des Abendlandes […], kannte weder die Kämpfe unseres Mittelalters zwischen Kaiser und Papst, noch die Kreuzzüge, noch mittelalterliche Dome und Dichtung, noch die Renaissance, noch die Reformation, noch die philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklungen" (S. 87). Für Jaspers sind es schließlich auch diese diskursiven Verwerfungen zwischen Russland und dem Abendland, die sich, unter der Allgegenwart der A- und H-Bombe, zu dem systemantagonistischen Stellvertreterkrieg um ‚die Wahrheit' gesteigert hätten: "Es tut sich ein Abgrund auf, über den hinweg zwar gesprochen wird, aber keine Sprache mehr verbinden kann" (S. 77). Der Kalte Krieg wird hierbei letztlich zu einem Kampf unvereinbarer Wissens- und Denksysteme erklärt, seine Kluft ist dabei scheinbar absolut und unüberbrückbar. Die kapitalistisch-liberalen Diskurse des Westen stehen dabei den marxistischen, und von Jaspers als totalitär gekennzeichneten, Diskursen des Ostens gegenüber – unmöglich aufeinander bezogen zu werden. Folgt man Jaspers, so ist dieser Konflikt in letzter Konsequenz das Ergebnis einer Jahrhunderte alten Spaltung, deren Chiffre das Abendland und dessen Grenzen sind.

    Foucault hat sich speziell in seinem frühen Schaffen mit Jaspers beschäftigt: James Miller hat betont, dass es für die Rekonstruktion dieser Einflussbeziehung gewinnbringend sein könnte, auch die Spuren von Jaspers' Theorie der "Grenzsituation" im Denken Foucaults nach zu verfolgen [3]. Ich meine es könnte produktiv sein, dieses Konzept mit Foucaults Begeisterung für Batailles Philosophie der "Transgression" [4] zu konfrontieren und gegeneinander zu lesen. Gerade weil Foucault in Bataille einen Wendepunkt im abendländischen Denken erkannte, in dem "die Literatur zunächst mit dem Surrealismus (aber in einer noch sehr verkleideten Form), dann in immer reinerer Form mit Kafka, mit Bataille, mit Blanchot […] als Erfahrung des Todes (und im Element des Todes), des undenkbaren Gedankens" [5], die Grenzziehung der Vernunft zum Wahnsinn zu überwinden versuchte, könnte dieser Theorie-Ansatz auch für den Abendland-Diskurs im Kalten Krieg fruchtbar sein. Auch weil die mit dem Abendland identifizierte Vernunft im Moment der "Transgression" (vielleicht auch der "Grenzsituation" Jaspers?) ins Schwanken gerät, könnte hier ein tool entwickelt werden, mit dem sich die disrkursiven Grenzdispositive zwischen Westen und Osten, zwischen Occident und Orient bzw. zwischen Abendland und Morgenland bis in den Kalten Krieg hinein beschreiben ließen. Jedenfalls ermöglicht Foucaults Rückgriff auf die diskursiven Herkunftslinien der Grenzverläufe zwischen Ost und West, den von Jaspers ausgerufenen Krieg der "Wahrheit" zwischen dem Abendland und Russland kritisch zu reflektieren und auf die Bedeutung und Formatierung der Ausschlussmechanismen von Wissen im Kalten Krieg hin zu befragen. Sein Verweis auf die subversiven Grenzüberschreitungen von Autoren wie Bataille und Blanchot ist hierbei bereits ein Element der Kritik an der statischen und hegemonialen Konzeption des Abendlandes als Vernunft-Regime, die für Jaspers noch einen festen Bestandteil der theoretischen Denk- und politischen Handlungsgrundlage bildet.

    Patrick Kilian

    [1] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969 (Orig.: Histoire de la folie à l'âge classique: Folie et déraison, Paris: Plon 1961).
    [2] Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit, München: dtv 1961.
    [3] James Miller: The Passions of Michel Foucault, New York: Simon and Schuster 1993, S. 447, Fußnote 23.
    [4] Michel Foucault: "Vorrede zur Überschreitung", in: ders.: Von der Subversion des Wissens, hg. v. Walter Seitter, München: Fischer 1974, S. 32-53, (Vgl. auch: Dits et Ecrits, Bd. 1 (1954-1969), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 320-342).
    [5] Michel Foucault: Die Ordung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, in: ders. Die Hauptwerke, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 7-471, hier: S. 460.

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